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ein ergiebiges und fruchtbares Betätigungsfeld, auf das schon Rodbertus und Friedrich List hingewiesen hatten, und das wir mit großem Vorteil bestellt haben. Für den unerwünschten aber nicht unmöglichen Fall eines allgemeinen Krieges hätte sich die militärische Kraft der Türkei zu unserem Nutzen fühlbar machen können. Für unseren österreichischen Bundesgenossen war die Türkei der denkbar bequemste Nachbar. Daß ihr Zusammenbruch einen Verlust auch für uns bedeutete, zeigte die Einbringung der letzten Militärvorlage, die mit der durch den Balkankrieg geschaffenen Situation begründet wurde. Über die Grenzen der türkischen Leistungsfähigkeit habe ich mir keine Illusionen gemacht. Schon weil ich diese Grenzen kannte, habe ich während vieler Jahre mit Erfolg darauf hingewirkt, daß es im nahen Orient zu keinem ernsten Konflikt kam: So 1897 während der Kreta-Verwickelung, 1908/09 während der bosnischen Annexionskrisis und in allen Phasen der mazedonischen Frage. Die Gefahr lag nahe, daß ein ernster Konflikt auf der Balkanhalbinsel für uns wie für Österreich-Ungarn mehr ungünstige als günstige Folgen nach sich ziehen und unsere europäische Position nicht erleichtern würde. Die Türkei ist lange Jahre ein nützliches und wichtiges Glied in der Kette unserer politischen Beziehungen gewesen.

Für absehbare Zeit wird unsere Stellung im Dreibund der Schwerpunkt unserer auswärtigen Politik bleiben. Der Dreibund hat an Wert für uns gewonnen in dem Maße, in dem sich durch unseren Übergang zur Weltpolitik und durch das Anwachsen unserer Flotte die Reibungskoeffizienten zwischen Deutschland und England vermehrten, aber auch durch die Veränderung der internationalen Lage, die der Abschluß des russisch-französischen Bündnisses mit sich brachte.

Rußland.

Die guten Beziehungen zum Zarenreich hatte das neue Deutsche Reich von Preußen geerbt. Bis auf die mehr auf persönlichen als auf sachlichen Gründen beruhende Feindschaft der Zarin Elisabeth gegen Friedrich den Großen und den Scheinkrieg, den Preußen und Rußland 1812 gegeneinander führten, hat Preußen Rußland und Rußland Preußen kaum je auf der Seite der Gegner gesehen. Das schwierige polnische Teilungswerk hat wohl vorübergehende Reibungen verursachen, nicht aber tiefgehende Gegensätze hervorbringen können. Gerade die polnischen Angelegenheiten haben Preußen und Rußland oft zusammengeführt. Für beide Reiche liegt in der polnischen Gefahr eine Mahnung, sich nicht zu entzweien, sondern die gemeinsame Abwehr großpolnischer Aspirationen als eine Brücke zu betrachten, auf der Preußen und Rußland sich immer wieder begegnen können. Während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Beziehungen zwischen dem preußischen und dem russischen Herrscherhause über das konventionelle Maß hinaus intim, sodaß sie auch in der Politik der beiden Reiche zum Ausdruck kamen. In der schweren Zeit des Krimkrieges erleichterte die freundschaftliche Haltung Preußens die Stellung Rußlands nicht unwesentlich, und sie fand ihr Gegenstück in der Haltung, die Kaiser Alexander II. im Deutsch-Französischen Kriege einnahm. Als nicht lange nach dem Abschluß des Frankfurter Friedens, im September 1872, die beiden Kaiser von Rußland und Österreich sich in der Hauptstadt des neuen deutschen Reichs mit dem ehrwürdigen Sieger des großen Völkerringens

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/48&oldid=- (Version vom 31.7.2018)