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die Hände reichten, hatte Fürst Bismarck für die europäische Politik eine neue Basis geschaffen. Die vereinte Kraft der Ostmächte wirkte erkaltend auf die Revanchestimmung des französischen Volkes und war eine Friedensbürgschaft ersten Ranges. Bismarck erwartete auch von der engeren Bindung Rußlands an die konservativen Tendenzen der auswärtigen Politik Deutschlands und Österreichs einen mäßigenden Einfluß auf die damals in Rußland stärker anschwellende panslawistische Strömung. Es sollte, wie er sich ausdrückte, der stürmische russische Elefant zwischen den zahmen Elefanten Deutschland und Österreich gehen.

Der Berliner Kongreß brachte 1878 eine Trübung des bis dahin ungestörten Einvernehmens unter den Ostmächten. Rußland, das nach den starken Verlusten eines langen und unerwartet schwierigen Feldzugs es nicht auf die Besetzung von Konstantinopel hatte ankommen lassen, mußte sich in Berlin einige nicht unwesentliche Modifikationen des Friedens von San Stefano gefallen lassen. Diese Abänderungen waren im wesentlichen auf geheime Abmachungen zurückzuführen, die das St. Petersburger Kabinett vor dem Kriege gegen die Türkei mit Österreich und nach erfolgtem Waffenstillstand mit England abgeschlossen hatte. Aber die russische Presse, deren Einfluß auf die russische öffentliche Meinung im Laufe der letzten Jahrzehnte erheblich zugenommen hatte, schob die Verantwortung für die das russische Volk wenig befriedigenden Ergebnisse des Berliner Kongresses auf den Vorsitzenden des Kongresses, der gleichzeitig sein hervorragendster Teilnehmer war, den Fürsten Bismarck. Der russische Reichskanzler, Fürst Gorschakow, dessen persönliches Verhältnis zum Fürsten Bismarck sich nach und nach immer mehr verschlechtert hatte, ließ nicht nur der russischen Presse die Zügel schießen, sondern erörterte selbst gegenüber einem französischen Journalisten den Gedanken eines russisch-französischen Bündnisses, das freilich damals nicht mehr als ein Gedanke war. Als auch Kaiser Alexander II. der deutschfeindlichen Strömung nachzugeben schien, schloß Bismarck 1879 den Bündnisvertrag mit Österreich-Ungarn, der zur Basis des Dreibundes wurde. Nach Abschluß dieses Bündnisses sagte mir der Timeskorrespondent in Paris, Herr v. Blowitz, ein vielgewandter Mann: „Das ist wohl der beste diplomatische Coup, den Bismarck noch gemacht hat.“ Fürst Bismarck setzte aber gleichwohl seine gewohnte Energie an die Wiedergewinnung des alten Verhältnisses zu Rußland. Und tatsächlich gelang ihm nicht nur eine erhebliche Besserung der deutsch-russischen Beziehungen, sondern die Dreikaiserbegegnung zu Skierniewice führte 1884 zu einer neuen Annäherung der drei Kaiserreiche. Der europäische Friede war durch den Bestand des Dreibundes auf der einen, die Entente der Ostmächte auf der anderen Seite nahezu ideal gesichert. Aber dem idealen Zustande war von vornherein eine Grenze gesetzt an den einander vielfach widerstreitenden Zielen der österreichischen und der russischen Orientpolitik. Es war nur eine Frage der Zeit, wann dieser Gegensatz, der nicht abhing vom guten oder schlechten Willen der Staatsmänner, sondern von der Verschiedenheit sehr realer politischer Interessen beider Reiche, wieder zur Erscheinung kam. Es war die bulgarische Frage, die aufs neue die Beziehungen zwischen Rußland und Österreich erschütterte. Das Einvernehmen der drei Kaisermächte überlebte nicht den stürmischen Sommer 1886. Fürst Bismarck hat bekanntlich selbst erklärt, daß er gegenüber dieser

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/49&oldid=- (Version vom 31.7.2018)