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wir rechnen und uns selbst als denjenigen Gegner ansehen, gegen den sich Frankreich in erster Linie wenden würde, wenn es glaubte, einen Angriff auf Deutschland siegreich durchführen zu können. Die französische Revanchepolitik wird getragen von dem unbeirrbaren Glauben der Franzosen an die Unverwüstlichkeit der Lebenskraft Frankreichs. Dieser Glaube fußt auf allen Erfahrungen der französischen Geschichte. Kein Volk hat die Folgen nationalen Mißgeschicks stets so schnell verwunden, wie das französische, keines nach schweren Enttäuschungen und scheinbar vernichtenden Niederlagen so leicht Spannkraft, Selbstvertrauen und Tatenfreudigkeit wiedergewonnen. Mehr als einmal schien Frankreich durch äußere Feinde endgültig überwunden, durch innere Wirrnisse so zermürbt, daß Europa glaubte, Frankreich habe aufgehört, gefährlich zu sein. Aber immer wieder stand in kürzester Zeit die französische Nation in der alten oder in vermehrter Kraft vor Europa und konnte aufs neue den Kampf um die europäische Suprematie aufnehmen, die Machtverhältnisse Europas aufs neue in Frage stellen. Der Auf- und Niedergang dieses Volkes hat die Staaten Europas immer aufs neue mit Staunen erfüllt. Der allmähliche Niedergang von der stolzen Höhe, auf die Ludwig XIV. Frankreich gehoben hatte, schien zum Zerfall des französischen Staates zu führen durch die große Revolution, die in kurzer Folge den Bürgerkrieg, die Auflösung der Armee, die Vernichtung der alten wirtschaftlichen Blüte und den Staatsbankerott nach sich zog. Zehn Jahre nach dem Ausbruch der Revolution waren die Heere der französischen Republik Herren über Italien, die Niederlande und alles Land links des Rheins und standen siegreich im Herzen Deutschlands, und wieder nach zehn Jahren strahlte das erste Kaiserreich in seinem höchsten Glanze, und Napoleon schien dem Ziele der Herrschaft über den gesamten Kontinent nahe. Es folgten die Katastrophen von Leipzig und Waterloo, die volle Besiegung Frankreichs, zweimal die Einnahme der französischen Hauptstadt. In mehr als zwanzig Jahren ununterbrochener Kriege hatte die französische Nation ihre wirtschaftliche und physische Kraft bis auf die Neige verbraucht, und doch konnte sich Frankreich unter dem zweiten Kaiserreich wiederum an die erste Stelle erheben. Die Niederlage von 1870 traf in ihren Folgen Frankreich schwerer als je eine zuvor. Aber die Kraft zu neuem Aufstieg des wunderbar elastischen Volks hat sie nicht gebrochen. Was vor mehr als einem halben Jahrhundert in seinem klassischen Werk „L’Ancien Régime et la Révolution“ Alexis de Tocqueville über die französische Nation schreibt, trifft in mancher Hinsicht noch heute zu: „Quand je considère cette nation en elle-même, je la trouve plus extraordinaire qu’aucun des événements de son histoire. En a-t-il jamais paru sur la terre une seule qui fût si remplie de contrastes et si extrême dans chacun de ses actes, plus conduite par des sensations moins par des principes; faisant ainsi toujours plus mal ou mieux qu’on ne s’y attendait, tantôt au-dessous du niveau commun de l’humanité, tantôt fort au-dessus; un peuple tellement inaltérable dans ses principaux instincts qu’on le reconnaît encore dans ses portraits qui ont été faits de lui il y a deux ou trois mille ans, et en même temps tellement mobile dans ses pensées journalières et dans ses goûts qu’il finit par se devenir un spectacle inattendu[1] à lui-même, et demeure souvent aussi surpris que les étrangers à la vue de ce qu’il vient de faire; le plus casanier et le plus routinier de tous quand an l’abandonne

  1. Druckfehlerberichtigung im 3. Band: lies „inattendu“ statt „inattendue“
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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 37. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/53&oldid=- (Version vom 31.7.2018)