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die unsere deutschen Wirtschaftsinteressen wie unser nationales Ansehen in gleicher Weise zu verletzen drohte. Der zu Madrid im Jahre 1880 abgeschlossene Marokkovertrag hatte die Ausübung des Schutzrechtes der europäischen Großmächte über Marokko geregelt. Er war abgeschlossen worden auf Grund der Anerkennung der Souveränität Marokkos. Auf eben dieser Grundlage ging Deutschland 1890 einen Handelsvertrag mit Marokko ein. Eine Änderung der Madrider Abmachungen war nur statthaft unter Zustimmung der Signatarmächte, der europäischen Großmächte mit Ausnahme Rußlands, der Vereinigten Staaten, der skandinavischen Staaten, Hollands, Belgiens und Portugals. Gewiß hatte Frankreich, das mit seinem eigenen Kolonialbesitz Marokko benachbart ist, ein besonderes Interesse an der Entwicklung der marokkanischen Angelegenheiten. Mit dieser Tatsache ist auf deutscher Seite stets gerechnet worden. Auf der Basis der Madrider Abmachungen wäre gegen eine Berücksichtigung der besonderen französischen und ebenso der spanischen Interessen nichts einzuwenden gewesen. Aber die französischen Wünsche gingen weiter. Frankreich mischte sich immer rücksichtsloser in die marokkanischen Verhältnisse ein. Es hoffte in aller Stille unter Ignorierung des Madrider Vertrags wie unter Nichtachtung der wirtschaftlichen Interessen anderer Staaten, insbesondere der deutschen, einen neuen großen und wertvollen Kolonialbesitz erwerben zu können. In Verfolgung dieser Politik stützte sich Frankreich auf England, in der Annahme, daß die englische Unterstützung und Billigung seiner Marokkopolitik ausreichend sei für die Erreichung seiner Ziele. Am 8. April 1904 kam zwischen England und Frankreich ein Sondervertrag zustande, in dem Frankreich die volle Herrschaft Englands in Ägypten anerkannte, England seine Billigung des französischen Vorgehens in Marokko aussprach. Der Sondervertrag schob das internationale Abkommen von 1880 ebenso ungeniert zur Seite, wie den deutsch-marokkanischen Handelsvertrag. Als eines der ersten greifbaren Resultate der mittelbar gegen Deutschland gerichteten französisch-englischen Entente trug der Vertrag eine offenbare Spitze gegen Deutschland. Die Entente-Mächte verfügten selbstherrlich über ein großes und wichtiges koloniales Interessengebiet, ohne das Deutsche Reich auch nur der Beachtung zu würdigen. Es war ein deutlicher Versuch, die weltpolitischen Entscheidungen für die Westmächte allein in Anspruch zu nehmen. Die französische Politik zögerte nicht, sofort nach dem Abschluß des englisch-französischen Abkommens die Konsequenzen zu ziehen, als seien die Madrider Signatarmächte überhaupt nicht auf der Welt. Frankreich ging an die „Tunifikation“ von Marokko. Der französische Vertreter in Marokko, St. Réné-Taillandier suchte sich die Mitregentschaft über Marokko zu sichern. Durch die Umgestaltung der polizeilichen Einrichtungen, die Gründung einer Staatsbank unter französischer Leitung, Vergebung der öffentlichen Arbeiten und Lieferungen an französische Firmen sollte das wirtschaftliche und staatliche Leben in Marokko so weit unter französischen Einfluß gebracht werden, daß die schließliche Einverleibung Marokkos in den französischen Kolonialbesitz nur eine Formsache gewesen wäre. Dem damaligen französischen Minister des Auswärtigen, Delcassé, einem ebenso begabten wie tatkräftigen Staatsmann, der aber, wo Deutschland in Frage kam, sich zu sehr von Gefühlsmomenten bestimmen ließ, schwebte der Gedanke vor, uns in Marokko vor ein Fait accompli zu stellen. Er wußte, daß er damit

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/55&oldid=- (Version vom 31.7.2018)