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dann, wenn es zu der Ansicht käme, daß es seine wirtschaftlichen und politischen Lebensinteressen nicht anders als auf gewaltsamem Wege gegen Deutschland durchsetzen könne. Die Triebfeder der englischen Politik uns gegenüber ist nationaler Egoismus, die der französischen nationaler Idealismus. Wer seine Interessen verfolgt, wird aber meist besonnener bleiben, als wer einer Idee nachjagt. Gewiß hat der englische Kaufmann über See bisweilen die Konkurrenz seines deutschen Berufskollegen unbequem empfunden, konkurrieren in der Welt hier und da die deutschen mit den englischen wirtschaftlichen Interessen.

Englisch-deutscher Ausgleich.

Aber auf seinen großen weltpolitischen Bahnen hat England kaum eine der großen Mächte so selten hemmend vor sich gesehen wie das Deutsche Reich. Das ist bei aller Sorge vor der deutschen Kriegsflotte den Engländern nicht entgangen. Deutschland und England sind wohl die einzigen europäischen Großmächte, zwischen denen nie ein Tropfen Blut vergossen wurde. Es hat zwischen ihnen Reibungen und Spannungen gegeben, niemals einen Krieg. Erfreulicherweise gewinnt auch in England die Einsicht an Boden, daß sich England im dauernden Gegensatz zu uns, bei einer forciert antideutschen Politik nur selbst schadet. Wohl bewußt ist endlich diesem größten Handelsvolk, wie treffliche Kunden England und Deutschland einander sind, und wie schmerzlich das britische Wirtschaftsleben den Ausfall der deutschen Kundschaft empfinden müßte. Den Interessengegensätzen zwischen Deutschland und England stehen sehr vitale Interessengemeinschaften gegenüber. Und im Grunde liegen die Gefahren der neuen Welt- und Seemacht für die englische Vormachtstellung auf dem Meere nur im Bereich der Möglichkeiten oder, richtiger gesagt, der Einbildung, nicht im Bereich fühlbarer Wirklichkeiten. Mit der Stellung Frankreichs zu Deutschland ist die Stellung Englands zu uns nicht zu vergleichen. Frankreich bewegt sich im Kreise um den Gedanken an Elsaß-Lothringen. Die englische Politik steht wohl unter dem Einfluß der Sorgen, die weite englische Kreise vor der wirtschaftlichen Expansion und der wachsenden Seemacht Deutschlands erfüllen. Seit dem Ende der Einkreisungspolitik im Jahre 1908 denkt England aber nicht mehr daran, seine gesamte internationale Politik oder auch jede Einzelheit seiner Beziehungen zum Deutschen Reich vom Gegensatz gegen Deutschland abhängig zu machen. Obwohl wir seit dem Beschreiten des weltpolitischen Weges in England oft einen Widersacher hatten, können unsere Beziehungen zu England jetzt, wo wir die nötige Verteidigungsstärke zur See erlangt haben, aufrichtig und vorbehaltlos freundliche und freundschaftliche sein. In der richtigen Erkenntnis, daß Frieden und Freundschaft zwischen Deutschland und England beiden Ländern heilsam, Feindschaft und Streit für beide gleich nachteilig sind, hat Kaiser Wilhelm II. seit seinem Regierungsantritt aus innerstem Drang und mit nie erlahmendem Eifer an der Herstellung eines guten Verhältnisses zwischen den beiden großen germanischen Nationen gearbeitet. Es gibt viele Gebiete, auf denen beide Völker gleichlaufende Interessen haben. Wo ein Zusammengehen, bei dem beide Teile ihren Vorteil finden, möglich ist, besteht für sie kein Grund, nicht Seite an Seite und Hand in Hand zu gehen. In dem Maße, in dem hüben und drüben die Erkenntnis an Boden gewinnt, daß die nationalen Interessen beider Länder bei gemeinsamem Vorgehen am besten auf ihre Rechnung kommen, werden auch die Voraussetzungen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/61&oldid=- (Version vom 31.7.2018)