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einer der schönsten Charakterzüge unseres Volkes. Aber dem Deutschen ist das Wissen von politischen Dingen meist eine rein-geistige Angelegenheit, die er mit den tatsächlichen Vorgängen des politischen Lebens gar nicht verknüpfen mag. Er könnte es auch nur in seltenen Fällen. Denn führt auch ein entwickeltes logisches Vermögen zum richtigen Urteil, so fehlt es doch zu oft am spezifisch politischen Verstande, der die Tragweite einer gewonnenen Erkenntnis für das Leben der Allgemeinheit erfassen kann. Der Mangel an politischem Sinn setzt den Wirkungsmöglichkeiten auch eines hochentwickelten politischen Wissens enge Grenzen. Ich habe mich während meiner Amtszeit lebhaft für die Förderung des staatsbürgerlichen Unterrichts interessiert, ich erwarte auch heute von ihm um so bessere Früchte, je mehr den Deutschen aller Stände und jedes Bildungsgrades die Möglichkeit geboten wird, an solchen Unterrichtskursen teilzunehmen. Aber bis angeborene und anerzogene Schwächen und Mängel unseres politischen Charakters auf diesem Wege behoben werden, wird viel Wasser unsere Ströme hinabfließen. Inzwischen könnte das Schicksal, das bekanntlich ein vornehmer aber teurer Hofmeister ist, es übernehmen, uns politisch zu erziehen, nämlich durch den Schaden, den uns unsere in unserem Volkscharakter liegenden politischen Schwächen wieder und wieder bringen müssen. Schwächen, auch politische, lassen sich selten durch Wissen, meist nur durch Erlebnisse kurieren. Hoffen wir, daß es nicht zu schmerzliche Erlebnisse sein mögen, die uns zu vielen und herrlichen Gaben das politische Talent hinzuerwerben. Trotz einer an politischem Mißgeschick reichen Vergangenheit besitzen wir dieses Talent noch nicht. Ich unterhielt mich einmal mit dem verstorbenen Ministerialdirektor Althoff über dieses Thema. „Ja, was verlangen Sie denn eigentlich?“ entgegnete mir der bedeutende Mann mit dem ihm eigenen Humor. „Wir Deutschen sind das gelehrteste und dabei das kriegstüchtigste Volk der Welt. Wir haben in allen Wissenschaften und Künsten Hervorragendes geleistet, die größten Philosophen, die größten Dichter und Musiker sind Deutsche. Neuerdings stehen wir in den Naturwissenschaften und auf fast allen Gebieten der Technik an erster Stelle und haben es noch dazu zu einem ungeheuren wirtschaftlichen Aufschwung gebracht. Wie können Sie sich da wundern, daß wir politische Esel sind. Irgendwo muß es hapern.“

Politischer Sinn ist Sinn für das Allgemeine. Eben daran gebricht es den Deutschen. Politisch begabte Völker setzen, bald bewußt, bald mehr instinktiv, im rechten Augenblick auch ohne den Druck einer besonderen Notlage, die allgemeinen nationalen Interessen den besonderen Bestrebungen und Wünschen voran. Im deutschen Charakter liegt es, die Tatkraft vorwiegend im Besonderen zu üben, das allgemeine Interesse dem einzelnen, dem engeren, unmittelbarer fühlbaren nachzustellen, ja unterzuordnen. Das hat Goethe im Auge mit seinem oft zitierten grausamen Ausspruch, daß der Deutsche im Einzelnen tüchtig, im Ganzen miserabel sei.

Der der Menschheit eigene Trieb, sich zu besonderen Zwecken zu Vereinen, Verbänden und Gemeinschaften zusammenzuschließen, dieser natürliche politische Trieb gewinnt seine höchste Entwicklungsform im staatlichen Zusammenschluß der Nation. Wo diese höchste Form mit Bewußtsein erreicht ist, verlieren die niederen im allgemeinen mehr und mehr an Geltung. Der nationale Zweckverband ordnet sich die kleineren, besonderen, ideellen und materiellen Zwecken dienenden Verbände unter. Nicht gewaltsam

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/70&oldid=- (Version vom 31.7.2018)