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Systematisierung, Schematisierung der Wirklichkeiten des politischen Lebens, nicht auf nüchterne Anpassung an die gegebenen politischen Tatsachen und Zustände, sondern auf deren Einordnung in logisch korrekt konstruierte Gedankenreihen.

Wir Deutschen sind ja auf der einen Seite ein gefühlvolles, gemütstiefes Volk und immer gern, vielleicht zu gern bereit, aus gutem Herzen gegen die bessere Einsicht zu handeln. Aber auf der anderen Seite sind wir von ganz außerordentlichem logischen Fanatismus und, wo für eine Sache eine gedankliche Formel, ein System gefunden ist, da dringen wir mit unbeirrbarer Zähigkeit darauf, die Wirklichkeit dem System anzupassen. Diese beiden Seiten zeigt der einzelne Deutsche in seinem privaten Leben, zeigt das Volk im öffentlichen Leben, und manche seltsame Erscheinung in Gegenwart und Vergangenheit erklärt sich aus dieser Zwiespältigkeit unseres Charakters. Die auswärtige Politik, die anschließt an eine lange Reihe schmerzlicher und freudvoller nationaler Ereignisse, erleben wir gern mit dem Gefühl. Die innerpolitischen Vorgänge, über die sich die Nation in verhältnismäßig sehr kurzer Zeit verstandesmäßig klar geworden ist, sind uns ein klassisches Gebiet für gedankliche Konstruktionen, für systematische Sichtung und Schichtung geworden. Der Deutsche wendet auf die Politik selten die Methode des modernen Naturforschers an, meist die des alten spekulativen Philosophen. Es gilt ihm nicht, mit offenen Augen vor die Natur hinzutreten, zuzusehen, was geschehen ist, was geschieht und deshalb notwendig weiterhin geschehen kann und wird. Es wird vielmehr bedacht, wie die Dinge sich hätten anders entwickeln müssen, und wie sie hätten werden müssen, damit alles fein logisch zusammenstimmt, und damit das System zu seinem Recht kommt. Die Programme passen sich nicht der Wirklichkeit an, sondern die Wirklichkeit soll sich nach den Programmen richten, und zwar nicht in Einzelheiten, sondern im Ganzen. Auf ihre innere Folgerichtigkeit, ihre systematische Vollendung angesehen, sind die meisten deutschen Parteiprogramme höchsten Lobes wert und machen der deutschen Gründlichkeit und logischen Gewissenhaftigkeit alle Ehre. Am Maßstabe der praktischen Durchführbarkeit gemessen, kann keines bestehen.

Parteiprogramme.

Die Politik ist Leben und spottet im Grunde wie alles Leben jeder Regel. Die Bedingungen der modernen Politik liegen vielfach weit zurück in unserer Geschichte, wo sich die allerletzten Ursachen, die heut noch fortwirken, nicht selten im Unsichtbaren, Unerforschlichen verlieren. Aber mit der Erkenntnis aller Ursachen und Bedingtheiten wäre noch nichts gewonnen für die politische Praxis. Wir erführen doch nur, wie vieles geworden ist, nicht aber, was nun heute oder morgen geschehen soll. Fast jeder Tag schafft neue Tatsachen, stellt neue Aufgaben, die neue Entschlüsse fordern. Ganz wie im Leben der einzelnen Menschen. Und nicht einmal mit der Anpassung an den Tag, an die Stunde ist alles geschehen. Es muß auch nach dem Maß unserer Einsicht und Fähigkeiten für die Zukunft gesorgt werden. Was können da die Regeln eines zu irgendeinem Zeitpunkt festgelegten Programms helfen, mag es noch so einheitlich in sich geschlossen und logisch begründet sein. Das reiche, sich immer wandelnde, komplizierte und täglich komplizierter werdende Leben eines Volkes läßt sich nicht auf das Prokrustesbett eines Programms, eines politischen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/79&oldid=- (Version vom 31.7.2018)