Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 1.pdf/80

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Prinzips spannen. Natürlich brauchen die Parteien eine gewisse programmatische Festlegung der von ihnen vertretenen Forderungen und Meinungen, um im Lande, vor allem für den Wahlkampf, Klarheit über ihre Ziele und ihre Eigenart zu schaffen. Ohne jedes Programm bliebe eine Partei eine unbekannte Größe. Nur die Versteinerung des Programms für die nahen und ferneren Ziele der Parteipolitik zu einem System für die gesamte Politik überhaupt ist vom Übel. Es gibt verschiedene, vielfach einander entgegengesetzte Interessen im Volke, und die Vertreter des gleichen Interesses werden sich mit Recht zusammenschließen und ihre Forderungen formulieren. Die Formel ist Programm. Es gibt verschiedene Ansichten über Staat, Recht und Gesellschaft, über die Ordnung des Staatslebens, vor allem in bezug auf die Verteilung politischer Rechte zwischen Volk und Regierung. Auch die, die gleiche oder ähnliche Anschauungen vertreten, werden sich zusammentun und zu Propagandazwecken ihren Ansichten in wenigen bezeichnenden Sätzen Ausdruck geben. Die Sätze sind Programm. Die Verknüpfung von staatlichem und wirtschaftlichem Leben bringt es auch mit sich, daß die Vertreter gleicher Interessen vielfach gleiche oder ähnliche Staatsanschauungen vertreten. Ihr Programm wird also entsprechend umfassender sein können. Man wird auch zugestehen dürfen, daß sowohl die beiden konkret historischen Anschauungen von Staat und Gesellschaft, die konservative und liberale wie die beiden abstrakt dogmatischen, die ultramontane und sozialdemokratische eine große Zahl von Tatsachen des politischen Lebens umfassen. Die betreffenden Parteiprogramme werden also dementsprechend ins einzelne gehen können. Aber eine Grenze gibt es auch hier. Eine Anzahl von Vorgängen im Staatsleben entzieht sich auch solcher verhältnismäßig weit gespannten programmatischen Erfassung, kann mit konservativen Augen schlechterdings nicht anders angesehen werden als mit liberalen. Im allgemeinen überwiegt sogar die Zahl derjenigen gesetzgeberischen Aufgaben, bei denen es sich um glatte Nützlichkeitsfragen handelt, die von der praktischen politischen Vernunft zu beantworten, nicht von der allgemeinen Staatsanschauung der Parteien zu wägen sind. Aber eine solche Unabhängigkeit von Parteiprogrammen wird auch für das Detail der Gesetzgebung selten zugestanden. Es genügt uns Deutschen nicht, die Parteipolitik auf eine gewisse Anzahl praktischer Forderungen und politischer Ansichten festzulegen. Jede Partei möchte mit ihren besonderen Ansichten die gesamte Politik umfassen und bis in alle Einzelheiten durchdringen. Und nicht nur die Politik. Auch in der Erfassung des geistigen, in der Wertung des praktischen Lebens möchten sich die Parteien voneinander unterscheiden. Die Parteianschauung soll „Weltanschauung“ werden. Darin liegt eine Überschätzung des politischen, eine Unterschätzung des geistigen Lebens. Gerade das deutsche Volk hat die großen Probleme der Weltanschauung tief und ernst ergriffen wie kein anderes Volk. Es hat oft, vielleicht für seine praktischen Interessen zu oft die nüchternen Fragen der Politik dem Weltanschauungskampf untergeordnet. Es ist andererseits das erste Volk der Welt gewesen, das das geistige Leben von politischer Bevormundung freigemacht hat. Wenn es nun die Weltanschauung der Parteipolitik unterordnet, wenn es sich dahin bringen will, alles Geschehen in Welt und Leben durch die trübe Brille politischer Parteiprinzipien anzusehen, so wird es sich selbst untreu. Der Versuch, die Politik, vornehmlich die Parteipolitik, in dieser Weise zu vertiefen, muß zu einer geistigen

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/80&oldid=- (Version vom 31.7.2018)