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niemals die Gefahr bestand, sie könnte durch den Einfluß, den er einer jeweilig vorgefundenen Mehrheit einräumte, auch nur zu einem kleinen Teil auf das Parlament übergehen. Vor allen Dingen dachte er gar nicht daran, den Willen einer Mehrheit dann gelten zu lassen, wenn er ihn mit seinem Willen nicht vereinbar fand. Er machte sich vorhandene Mehrheiten zunutze, ließ sich aber nicht von ihnen benutzen. Gerade Bismarck verstand es meisterhaft, sich oppositioneller Mehrheitsbildungen zu entledigen und sich selbst Mehrheiten zu schaffen, die sich den Zielen seiner Politik fügten. Vor die Wahl gestellt, sich ein wichtiges Gesetz von der gerade ausschlaggebenden Mehrheit verpfuschen zu lassen, oder den unbequemen Kampf um eine Veränderung der Mehrheitsverhältnisse aufzunehmen, hat er niemals gezögert, das zweite zu wählen. Er zog Vorteil aus der Möglichkeit, sich von Fall zu Fall Mehrheiten zu nehmen, aber er war der letzte, sich den von Fall zu Fall zusammenkommenden Mehrheiten zu unterwerfen. Man soll auch in dieser Beziehung den Namen Bismarcks nicht mißbrauchen. Bismarck kann nur für eine starke, entschlossene, ja rücksichtslose Führung der Regierungsgeschäfte Eideshelfer sein, nicht für eine gefügige, nachgiebige, die den Parteien größere Rechte einräumt, als ihnen zukommen.

Bequemer ist es ja zweifellos, zuzusehen, wie sich für ein Gesetz so oder so eine Mehrheit findet, anstatt zu sehen, wie man ein Gesetz durchsetzt, so wie es die Regierung für richtig, für segensreich hält. Der Modus, ein Gesetz sozusagen auf den Markt zu werfen und an den Meistbietenden loszuschlagen, ist nur angängig, wenn eine Regierung so stark und zugleich so geschickt ist, wie es die Bismarcks war. Vor allem darf es nur geschehen, wenn das Gesetz selbst von der Mehrheit auch in der von der Regierung gewünschten und vorgeschlagenen Form angenommen wird, wenn die Regierung führt. Läßt sie sich führen, so wird sie nur zu leicht erleben, daß ihr Gesetz im Hader der Parteien beim gegenseitigen Feilschen der Mehrheitsparteien bis zur Unkenntlichkeit entstellt, und ganz etwas anderes, wenn nicht gar das Gegenteil von dem erreicht wird, was die Regierung eigentlich erreichen wollte. Auf solche Weise stellen sich die Mehrheiten nicht von Fall zu Fall den Gesetzen, die die Regierung einbringt, zur Verfügung, sondern die Regierung überläßt ihre Gesetze von Fall zu Fall den Mehrheiten zur beliebigen Verwendung und Umformung. Indem die Regierung tut, als ob sie über den Parteien stünde, gleitet sie in Wahrheit unter die Füße der Parteien.

Gerade die Notwendigkeit, angesichts der deutschen Parteiverhältnisse ab und zu mit den Mehrheiten zu wechseln, verlangt eine starke Hand in der Führung der Regierungsgeschäfte. Für die Ewigkeit kann keine Regierung mit einer und derselben Mehrheit arbeiten. Das scheitert am Verhältnis der Parteien zueinander, scheitert am Doktrinarismus der meisten Parteien, an ihrer Neigung, von Zeit zu Zeit aus Gründen der Popularität in die Opposition zu treten, endlich an der Vielfältigkeit der Regierungsaufgaben, die nur zu einem Teil mit einer bestimmten Mehrheit zu erfüllen sind. Im Interesse einer möglichst allen Teilen der Nation gerecht werdenden Politik ist es auch nicht gut, wenn sich eine der Parteien, mit denen sich überhaupt positiv und im Staatsinteresse arbeiten läßt, der Mitarbeit fernhält. Den Parteien ist es heilsam, wenn sie an der gesetzgeberischen Arbeit teilnehmen. Parteien, die dauernd in der Opposition

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/88&oldid=- (Version vom 31.7.2018)