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nationalen Aufgaben des Reiches. Eine deutsche Regierung, die aus eigener parteipolitischer Voreingenommenheit die nationale Bereitwilligkeit einer Partei zurückstieße, der die nationalen Opfer einer Partei deshalb weniger wertvoll erschienen, weil ihre allgemeine politische Richtung der Regierung nicht behagt, würde unnational handeln. Für die Regierung ist an jeder Partei die Intensität der nationalen Gesinnung das weitaus Bedeutsamste. Mit einer im Grunde national zuverlässigen Partei wird und muß zu arbeiten sein. Denn eine solche Partei wird bei der in Deutschland oft so schweren Wahl zwischen dem Interesse der Allgemeinheit und dem der Partei in großen Fragen sich doch zuletzt in nationalem Sinne beeinflussen lassen. Diesen gesunden Optimismus braucht kein deutscher Minister sich nehmen zu lassen, mag er für den gewöhnlichen Lauf der Politik den Parteien noch so skeptisch gegenüberstehen. Der feste Glaube an die endliche Sieghaftigkeit des nationalen Gedankens ist die erste Voraussetzung einer wahrhaft nationalen Politik. Das herrliche Wort, das Schleiermacher im dunklen Jahr 1807 sprach: „Deutschland ist noch immer da, und seine unsichtbare Kraft ist ungeschwächt“ sollte jedem deutschen Politiker Tag und Nacht vor Augen stehen. Dieser Glaube darf gerade uns Deutschen nicht fehlen in den Irrungen und Wirrungen unseres Parteihaders, die den Durchbruch spontanen Nationalgefühls noch immer so flüchtig erscheinen lassen wie eine seltene Feiertagsstimmung.

Ein Rückblick auf das Schicksal der deutschen Wehrvorlagen ist gleichzeitig ein Blick auf die Wandlungen des nationalen Gedankens innerhalb der Parteien. Die Konservativen haben volles Recht auf den Ruhm, dem Vaterlande noch niemals einen Mann verweigert zu haben, und auch die Nationalliberalen haben noch nie das Schicksal einer Wehrvorlage in Frage gestellt. In dieser nationalen Hinsicht vornehmlich stehen die alten Kartellparteien an erster Stelle, und es war nicht nur für sie, sondern für das Reich ein Verlust, daß die Wahlen von 1890 ihre Mehrheit zerstörten und zugleich die Aussicht auf eine Wiedergewinnung dieser Mehrheit. Dem neuen Reichstag von 1890 hatte Fürst Bismarck eine Militärvorlage vererbt, die dann kleiner eingebracht wurde, als sie dem Altreichskanzler vor seinem Rücktritt vorgeschwebt hatte. Graf Caprivi forderte 18 000 Mann und 70 Batterien. Trotzdem der greise Moltke für die Vorlage sprach, war ihr Schicksal lange Zeit ungewiß. Eugen Richter lehnte für den gesamten Freisinn ab. Die Vorlage wurde von den Kartellparteien mit Hilfe des Zentrums bewilligt, das Zentrum aber knüpfte an seine Zustimmung für später die Forderung der zweijährigen Dienstzeit.

Schon die große Militärvorlage des Jahres 1893, die durch die unter dem Bedarf gebliebenen Forderungen der vorangegangenen Vorlage so bald notwendig wurde, zeigte, auf wie unsicheren Füßen die nationale Mehrheit der bürgerlichen Parteien stand. Das Zentrum brachte seine Verstimmung über das Fehlschlagen seiner schulpolitischen Hoffnungen in Preußen der Militärvorlage gegenüber zum Ausdruck. Trotzdem seine Forderung der zweijährigen Dienstzeit durch die neue Vorlage erfüllt wurde, konnte es sich nicht entschließen, für die Vorlage zu stimmen. Im Freisinn rang der nationale Gedanke damals nach Luft. Aber nur 6 freisinnige Abgeordnete fanden sich schließlich zur Zustimmung bereit. Flüchtig regte sich 1893, sechzehn Jahre vor dem Zustandekommen, die Hoffnung auf ein Zusammengehen von Konservativen und Liberalen mit

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/95&oldid=- (Version vom 31.7.2018)