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Lebenssitten. So wünschenswert und nützlich die Entfaltung äußeren Glanzes bei besonderen Anlässen sein mag, die Ingenieure als Teil der geistigen Führerschaft des Volkes müssen zeigen, daß der rein äußerliche Lebensgenuß die Bestrebungen der Technik, die Arbeitskraft der Menschheit von Stufe zu Stufe höheren Aufgaben zuzuführen, durchkreuzt. Es bedarf der unerbittlichen und ehrlichen Selbstprüfung, ob wir hierin immer unsere volle Pflicht getan haben.

Wir haben erkannt, daß wir die Grundzüge der mit uns zusammenarbeitenden Berufsarten beherrschen müssen. Vielfach müssen wir Zweige derselben in unsere tägliche Tätigkeit verpflanzen, ab und zu wird sogar ein allseitig veranlagter Mann durch die Entwicklung seiner Geschäfte von einem Beruf in den andern hinübergezogen. Indem wir uns nun frühzeitig über die Aufgaben der uns nahetretenden Berufsarten unterrichten, kommen wir in die Gefahr, die Schwierigkeiten derselben zu verkennen und unser Wissen und Können zu überschätzen. Der Ingenieur glaubt allzufrüh den Rat des Juristen und des Kaufmanns entbehren zu können, der Kaufmann verdirbt die Organisation der Werkstätte, der Jurist schließt unerfüllbare Verträge auf technische Lieferungen ab, der auf der Militärtechnischen Hochschule notdürftig orientierte Offizier führt das ihm anvertraute Luftschiff der Vernichtung entgegen. Es fehlt der, nur aus einer gründlichen Vorbildung und dem jahrelangen gewohnheitsmäßigen Umgang mit den Berufsaufgaben erwachsende Spürsinn für verborgene und mit neuen Wagnissen neuentstehende Schwierigkeiten und Gefahren.

Die Aufgaben des Berufes, der Selbsterkenntnis, der Organisation sind somit durch die Technik nicht geringer geworden, sondern nach Zahl, Größe und Schwierigkeit gewachsen. Ihre Bewältigung ist eine Funktion der Zeit und der störungsfreien Entwicklung. Wenn wir uns zu diesem Zweck die Fortdauer friedlicher Zeiten wünschen, so können wir andernteils einem mit Gut und Blut und den technischen Hilfsmitteln des Landes abzuwehrenden Ansturm auf unsere deutsche Kultur ohne Besorgnis entgegensehen. Ein Volk, bei dem fast alle Betätigungen des Lebens eine so kräftige Entwicklung nach aufwärts aufweisen, ist in seinem Kern gesund. Eine von außen aufgedrängte Kraftprobe kann schlimmstenfalls zu einer vorübergehenden Niederlage, nicht aber zur Vernichtung führen, das Aufleben nationalen Bewußtseins im deutschen Volke läßt aber darauf schließen, daß wir jeden Ansturm überwinden werden.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 558. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/121&oldid=- (Version vom 20.8.2021)