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unter Wilhelm I. und Bismarck gelegten Grundlagen darstellt, ist hier in der Schaffung der Kriegsmarine und in der Begründung eines, wenn auch immer gegen den anderer Länder kleinen Kolonialbesitzes auch eine neue und originale Leistung gelungen, welche den besonderen Ruhm dieses jüngsten Zeitalters deutscher Geschichte bildet.

Diese politischen Taten, welche zugleich von größter volkswirtschaftlicher und weltwirtschaftlicher Tragweite sind, haben durch sich selbst auch den besten Beweis dafür geliefert, daß erst durch die Ereignisse von 1866 und 1870 Deutschland, und selbst das um die österreichischen Gebiete verkleinerte Deutschland, dem deutschen Volk und der deutschen Volkswirtschaft die gebührende Stellung in der Welt verschaffen konnte. So konnte wenigstens im letzten Moment, wo es möglich war, den ausgeschlossenen und verspäteten Deutschen neben anderen Europäern ein Platz und Betätigungsspielraum auf unserer Erde verschafft werden. Damit hat sich der Weg durch Blut und Eisen, auf dem die neue deutsche Einheit, die Trennung von Österreich, so vielfach gegen Wunsch und Willen anderer Deutscher erreicht worden ist, auch als der richtige und notwendige erwiesen, um zur politischen und wirtschaftlichen Stellung des deutschen Volkes in der Gegenwart zu gelangen.

Nur durch die Hervorhebung und Charakterisierung einiger einzelner Hauptpunkte der Entwicklung der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik in Preußen und im ganzen Reich im letzten Vierteljahrhundert mag das Gesagte hier belegt und begründet werden. Für das Einzelne ist auf die einschlägigen Abschnitte dieses Werks aus anderen Federn zu verweisen.

Agrarverfassung und Agrarpolitik.

Der Charakter der allgemeinen Wirtschaftspolitik eines Landes erhält seinen prägnantesten Ausdruck einmal durch die Agrarverfassung und Agrarpolitik, sodann durch die innere Gewerbe- und Handelsverfassung und -politik und durch die äußere Handelspolitik. Agrarverfassung und Agrarpolitik sind auch im neuen Deutschen Reich ja wesentlich Angelegenheiten der Einzelstaaten geblieben, nur daß die Gesetzgebung des Reichs über Staats- und Reichsbürgerrecht, Niederlassungsrecht, Zugrecht als Freizügigkeit, Wanderrecht und Reiserecht, Eheschließungsrecht, Aus- und Einwanderungsrecht, Unterstützungswohnsitz, Wehrdienstpflicht auch in die Agrarverhältnisse bedeutsam eingreift. Das großenteils bereits in Preußen bestehende „freiheitlich“ ausgestaltete Spezialrecht in den genannten besonderen Rechtsgebieten war in die Reichsverfassung bereits übergegangen und schon in der Periode vor 1888, soweit notwendig, in derselben Richtung noch weiter ausgebildet worden. Die Agrarverfassung speziell hatte in Preußen ihren im ganzen freiheitlich-individualistischen Charakter in die Reichszeit mit herübergenommen, so den Grundsatz der freien Teilbarkeit und Zusammenlegbarkeit des ländlichen Besitzes in Kauf und Verkauf und im Erbgang, des freien Absatzes und Marktverkehrs und der freien vertragsmäßigen Preisbildung für Agrarprodukte, des freien Pachtrechtes und Mietrechtes und des freien Verschuldungsrechts. Aber provinzial- und bezirksweise waren doch auch Ausnahmen von dieser Gestaltung des Agrarrechts geblieben, die auch mit der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs nicht verschwanden, so einzelne Provinzialsysteme

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 453. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/16&oldid=- (Version vom 13.12.2020)