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die deutsche Fabrikation im Laufe der Zeit so verbessert worden, daß sie heute durchaus auf gleicher Höhe mit der englischen steht. Von vielen Fachleuten wird sogar behauptet, daß England in mancher Beziehung nicht fortgeschritten und daher von Deutschland überholt worden sei. Das gelte namentlich in bezug auf die Spinnerei und die Zurüstung der Stoffe. Jedenfalls zeigt eine nähere Prüfung im einzelnen, daß viele Fortschritte und Verbesserungen auf deutsche Erfinder und deutsche Industrielle zurückzuführen sind.

Einen wichtigen Bestandteil der Wollspinnerei bildet die Kunstwollindustrie. Der verächtliche Klang, den dieser Name hatte, ist mehr und mehr geschwunden, nachdem man erkannt hat, welche wichtige Rolle dieses Material auf dem Markte spielt. Ohne Kunstwolle wäre es nie möglich gewesen, auch den wenigen bemittelten Leuten Wollsachen mit ihren großen Vorzügen zugänglich zu machen. Ohne Kunstwolle wären die Preise für Schurwolle bei dem Mangel an diesem Material bedeutend höher gestiegen, wie es schon der Fall ist. Ohne Kunstwolle hätte die Baumwolle der Schurwolle eine noch größere Konkurrenz wie bisher gemacht. Bei dem Vorurteil gegen die Kunstwolle ist zu berücksichtigen, daß es sich gar nicht um ein Kunstprodukt, sondern um Naturwolle handelt. Die Wolle, die als Kunstwolle in den Handel kommt, war nur schon einmal zu einem Verbrauchsgegenstand verarbeitet und hat natürlich dabei hinsichtlich der Haltbarkeit und Güte mehr oder weniger gelitten. Gute Kunstwolle, z. B. solche aus feinen Kammgarnstoffen und Trikotagen gewonnene, stellt unter Umständen ein wertvolleres Produkt als schlecht gezüchtete Schurwolle dar. Die Kunstwollfabrikation ist wesentlich durch die Karbonisation, durch die alle pflanzlichen Verunreinigungen, z. B. Baumwollfäden, beseitigt werden, vervollkommnet worden. Dadurch ist es z. B. jetzt auch möglich, halbwollene Lumpen zu Kunstwollfabrikation zu verwenden. Sonstige Errungenschaften in der Wollspinnerei sind vielfach zu verzeichnen. In der Wollwäscherei haben die Gewinnung des Schweißes, aus dem Pottasche hergestellt wird, und die Gewinnung von Fett aus den Abwässern an Bedeutung zugenommen, nachdem man die Gewinnungsmethoden verbessert hat. Das Trocknen und Färben der gewaschenen Wolle geschieht heute ausschließlich durch maschinelle Einrichtungen, auf welchem Gebiete deutsche Erfinder hervorragend tätig gewesen sind. Beim Färben wird gerade umgekehrt wie früher gearbeitet. Während die Wolle früher in der Flotte bewegt wurde, wird jetzt die Flotte durch sie hindurch getrieben und zwar meistens im Wechselstrom. Dadurch wird das Material geschont, denn das gefürchtete Filzen der losen Wolle wird vermieden. Das Karbonisieren der Wolle, daß wie bei der Kunstwollfabrikation zur Beseitigung pflanzlicher Verunreinigungen, z. B. Kletten und Stroh, vorgenommen wird, hat sich immer mehr eingebürgert, nachdem die Arbeitsmethoden so geändert worden sind, daß die Wolle beim Säuren und Trocknen nicht mehr angegriffen wird. Hinsichtlich des Baues der Krempel- und Spinnmaschinen kann man behaupten, daß die deutschen Erbauer ihre englischen Lehrmeister weit überholt haben. Während vor 25 Jahren englische Spinnereimaschinen in großen Mengen eingeführt wurden, ist es heute nicht mehr erstaunlich, daß deutsche Fabrikate nach England wandern. Die Entwickelung des deutschen Spinnereimaschinenbaues stellt ein Ruhmesblatt in der Geschichte

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 607. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/170&oldid=- (Version vom 19.2.2017)