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fand damals freilich bei den „Anhängern der wohlbewährten Bismarckschen Wirtschaftspolitik“ so scharfe Kritik, daß schließlich selbst der Opposition um die Folgen ihres radikalen Gebahrens bange wurde. Auch heute wird an diese „Frühzeit“ der Regierung Kaiser Wilhelms II. nicht selten nur in dem Sinne erinnert, daß jener „Mißgriff“ später wieder „gutgemacht“ worden sei, während von anderer Seite jenes Wort des Kaisers auch jetzt noch als im vollem Umfange zu Recht bestehend erachtet wird. Es mag deshalb auf die Ursachen und Folgewirkungen der Caprivischen Handelspolitik, soweit dafür exakte Unterlagen vorliegen, etwas näher eingegangen werden. Dies rechtfertigt sich auch deshalb, weil, wie weiter unten darzulegen sein wird, die deutsche Handelspolitik seitdem an den damals aufgestellten Grundsätzen festgehalten hat.

Politische und wirtschaftliche Gründe.

Außer allem Zweifel steht zunächst, daß bei dem Abschluß des österreichischen Handelsvertrages (und später des russischen) politische Gründe mitgewirkt haben und insofern der Vorwurf Bismarcks, daß hier „wirtschaftliche Interessen mit den Fragen der auswärtigen Politik vermengt“ worden seien, eine gewisse Berechtigung enthält, wenn aus solcher Vermengung überhaupt ein Vorwurf abgeleitet werden kann.[1] Ebenso zweifellos steht heute aber fest, daß politische Gründe damals selbst gegenüber Österreich und Rußland nicht in erster Linie wirksam gewesen sind, geschweige denn bei den übrigen Verträgen eine nennenswerte Rolle gespielt haben. In der Hauptsache drängten wirtschaftliche und soziale Gründe die deutsche Handelspolitik in die neue Richtung. Um dies zu illustrieren, sei das Folgende hervorgehoben:

Mit dem Tarif von 1887 war in Deutschland im Gegensatz zu den Folgewirkungen der Maßnahmen von 1879 und 1885 eine merkliche Steigerung der Getreidepreise eingetreten. Diese erreichte im Jahre 1891 infolge ungünstiger Ernten in den Haupterzeugungsländern eine solche Höhe, daß mit gewissem Recht von Teuerungspreisen gesprochen werden konnte. Der Weizenpreis stieg in Berlin auf 224, der Roggenpreis auf 211 M. Ähnlich waren auch die Preise der übrigen Agrarprodukte in die Höhe gegangen. Angesichts solcher Sachlage wurde in Deutschland je länger desto mehr die Herabsetzung der Getreidezölle gefordert. Die Reichsregierung lehnte dies jedoch ab, weil sie solche Ermäßigung als Kompensationsobjekt bei den von ihr beabsichtigten Vertragsverhandlungen mit Agrarländern benutzen wollte. Lag in diesen agrarischen Notstandspreisen ein triftiger Grund für die deutsche Reichsregierung, in eine Herabsetzung der Getreidezölle einzuwilligen, so sind damit keineswegs schon die Motive gekennzeichnet, die schließlich zu einer langfristigen Bindung des Zolltarifs gegen das Äquivalent der Herabsetzung ausländischer Industriezölle führten. Eine Behebung der Teuerung, die im wesentlichen internationale Ursachen hatte, wäre ja auch durch die zeitweilige Herabsetzung der Getreidezölle möglich gewesen.


  1. Aus dem Munde Bismarcks mutete solcher Vorwurf der Vermengung von „hoher“ Politik und Handelspolitik übrigens eigenartig an, denn er selbst hatte hierfür, gerade Österreich gegenüber, das Beispiel gegeben, als er (die Politik des Ministeriums Manteuffel fortsetzend) im Kampf um die Vormachtstellung im deutschen Bunde die freihändlerische Richtung im Zollverein stärkte, um den Eintritt Österreichs in den Zollverein unmöglich zu machen.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 686. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/249&oldid=- (Version vom 20.8.2021)