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Diese Zahlen zeigen aber auch, welche Bedeutung die europäischen Handelsverträge für die deutsche Ausfuhr haben. Unter diesem Gesichtswinkel tritt die seit Caprivi befolgte Handelspolitik erst in die richtige Beleuchtung. Der Schwerpunkt unserer aktiven Handelsbeziehungen liegt durchaus in Europa, woraus sich von selbst ergibt, daß die deutsche Handelspolitik dem vor allem Rechnung zu tragen hat.

Die Frage ist nun, ob dies durch die neueste Wendung unserer Handelspolitik genügend geschehen ist! Die Antwort fällt, gemessen an der Handelsbewegung der letzten 6 Jahre, im ganzen bejahend aus (vgl. Tabelle, S. 261). Der Tarif von 1902 (in Kraft seit 1906) hat die Weiterentwicklung der deutschen Ausfuhr nicht aufgehalten. Es zeigt sich auch hier wieder, daß die langjährige Bindung der Tarife, wie sie durch die Vertragspolitik bedingt wird, bedeutungsvoller für den Außenhandel ist als es die Tarife selbst sind. Es ist allerdings zu bedenken, daß in die Vergleichsjahre zwei ungewöhnlich günstige Weltmarktkonjunkturen fallen. Im Krisenjahre 1908 haben die erhöhten Auslandszölle sofort ihre Wirkung getan; es ist auch anzunehmen, daß bei künftigem Nachlassen der gegenwärtigen günstigen Konjunktur ein Gleiches in die Erscheinung tritt. Im ganzen aber wird hierdurch das günstige Urteil über die Wirkungen des Tarifs von 1902 nicht beeinflußt. Im einzelnen hat der Tarif freilich empfindliche Hemmungen der Ausfuhr mit sich gebracht. Es würde aber zu weit führen, die hiervon betroffenen Industriezweige an dieser Stelle zu schildern. Wir müssen uns hier mit der Darstellung des Gesamtbildes begnügen, und dieses tritt bisher recht günstig in die Erscheinung. Allerdings darf nicht verkannt werden, daß es innerhalb der deutschen Industrie ganz enormer Anstrengungen bedurft hat, um sich den neuen Verhältnissen anzupassen. Die Rationalisierung der Betriebe hat sozusagen bis zum „Präzisionsapparat“ fortgeführt werden müssen. Ganz zweifellos ist hier vorläufig eine Grenze erreicht worden, die nicht mehr weit überschritten werden kann.

Es ist deshalb zu verstehen, wenn die am Export interessierte Industrie der künftigen Entwicklung der Dinge mit Sorge entgegensieht. Hat sie schon unter selten günstigen internationalen Konjunkturverhältnissen alle Nerven anspannen müssen, so ist nicht von der Hand zu weisen, daß der geringste Rückschlag auf dem Weltmarkt ihre Position schwer erschüttern kann. Dazu kommt, daß Bestrebungen im Gange sind, vor allem den agrarischen Tarif das nächstemal „lückenlos“ zu gestalten, d. h. nicht nur die Futtermittelzölle in jetziger Höhe beizuhalten, sondern daneben die bisher zollfreien Positionen zu beseitigen. Auch die gelegentliche Agitation auf Erhöhung der Brotgetreidezölle ist geeignet, die Industrie zu beunruhigen. Sollten diese Bestrebungen sich auch nur zum Teil verwirklichen, so würde dies aufs neue zu einer Steigerung der Kosten des Lebensunterhalts in Deutschland führen, die in der Tat zu ernsten Bedenken Anlaß gäbe. Die Arbeiter würden mit neuen Lohnforderungen kommen, die im Preise der Industrieprodukte ihren Ausdruck fänden und die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt schwächten. Die Vertragsstaaten würden zudem mit weiteren Zollerhöhungen folgen, die in ihren Wirkungen garnicht abzusehen wären. Es gibt für die Belastung einer Industrie, die auf den Weltmarkt angewiesen ist, unter allen Umständen Grenzen. Zahlreiche Anzeichen sprechen dafür, daß diese Grenze in Deutschland

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 712. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/275&oldid=- (Version vom 20.8.2021)