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Liegt in dieser natürlichen Widerstandsfähigkeit des Kleinbetriebes ein Trost für den Sozialpolitiker, der das Aufschießen der Warenhäuser nicht ohne Besorgnis begleitet, und verbürgt sie die Zukunft des Detaillistenstandes, so ist andererseits nicht außer acht zu lassen, daß der erwähnte Vorzug die Ursache einer ungesunden Entwicklung sein kann. Bei aller Sympathie für den Kleinbetrieb im gewerblichen Leben wird man doch der Erkenntnis nicht ausweichen dürfen, daß Gebilde, die der Lebensfähigkeit entbehren, im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse verschwinden sollen. Der Reinigungsprozeß vollzieht sich in der Industrie unaufhaltsam; die Hand am Besen hat der Großbetrieb. Eine Überschwemmung industrieller Berufe mit ungesunden Existenzen ist deshalb vielleicht vorübergehend, aber nicht auf längere Dauer möglich. Anders im Handel: durch die weit geöffneten Tore ziehen frische Rekruten ein, um sich in die Armee der Kämpfer einzureihen; aber selbst wenn sie sich als ungeeignet erwiesen haben, werden sie noch geraume Zeit das Ganze als unnützer Troß beschweren – dank eben jener Zähigkeit, die hier zwar nicht die Bedingung eines gesunden Lebens, aber doch die Möglichkeit des Vegetierens schafft.

Zu untersuchen, ob in der heutigen Besetzung des Handelsstandes bereits der Zustand der Überfüllung zu erkennen sei, ist müßig. Wichtiger ist es, nach Mitteln Umschau zu halten, die für Gegenwart und Zukunft der Gefahr der Überfüllung vorbeugen. Aus dem Zustrom der Elemente die ungeeigneten auszuscheiden und dem Stande dauernd fernzuhalten, wird um so eher gelingen, je mehr durch Selbsthilfe und Maßnahmen des Staates das Niveau des Handels gehoben wird. Die Anforderungen, die in geistiger Beziehung an die Angehörigen des Berufs gestellt werden, müssen hoch gehalten werden; das Erfordernis sorgfältiger Schulung wirkt verscheuchend auf Elemente, die der Vorbildung entbehren. Die Hebung des Niveaus hat zwar in gewissem Umfange zur Folge, daß der Wettbewerb innerhalb des Gewerbes sich verschärft und damit dem einzelnen Unbequemlichkeiten erwachsen, aber im Interesse der Sichtung des Standes ist dies nur erwünscht. Zu den wichtigsten Maßregeln, durch die Abwehr und Ausmerzung ungeeigneter Elemente mittelbar bewirkt werden, gehören diejenigen, welche den Unlauterkeiten in Handel und Wandel entgegenwirken. Das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, das am 27. Mai 1896 ergangen war, wies einige wesentliche Lücken auf, die das neue Gesetz, das vom 7. Juni 1909 datiert, auszufüllen versucht hat. Die Verschärfungen, die es brachte, konnten im Interesse des soliden Handels nur willkommen geheißen werden. Allerdings muß man sich vor dem Wahn hüten, als ob gesetzliche Zwangsmittel genügten, um die Auswüchse im Handelsverkehr zu vernichten. Mehr als vom Gesetz ist von der Sitte zu erwarten; das Zusammenwirken der Angehörigen der einzelnen Zweige des Handelsgewerbes ist von schöpferischer Kraft. Ohne Organisation keine Erziehung, dies gilt auch für das Handelsgewerbe, das mehr als andere Gewerbe zur Zersplitterung neigt. Eine allzu starke Betonung der Staatshilfe bei Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbes ist imstande, der Verbreitung der irrtümlichen Ansicht Vorschub zu leisten, als sei alles, was der Staat nicht verbietet, erlaubt.

Die Gefahr einer Überfüllung des Kaufmannsstandes wird noch durch einen besonderen Umstand in die Nähe gerückt: durch die Absperrung der Frauen von den anderen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 723. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/286&oldid=- (Version vom 20.8.2021)