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Gründung- und Emissionsgeschäft und der Börsenspekulation halten sich die englischen Banken grundsätzlich fern. Hier treten die Merchants, die Auslands- und Kolonialbanken ein. Dieses ganze Finanzierungs- und Gründungsgeschäft wird in England viel weniger mit fremden Mitteln betrieben; die Merchants arbeiten nicht oder doch höchst selten mit Depositen und zeichnen sich in der Regel durch außerordentliche eigene Kapitalkraft aus. Hierbei mag betont werden, daß die im Laufe der letzten 10 Jahre in England errichteten Filialen unserer großen deutschen Banken sich mehr mit der Tätigkeit der Merchants befassen, als mit der der Depositenbanken.– Nun darf man aber keineswegs glauben, daß mit dieser Spezialisierung im englischen Bankwesen der Gipfel der Vollkommenheit erreicht ist; gerade, weil die großen Banken keinerlei Interessen an den emittierten Werten haben, weil keinerlei organische Verbindung, wie bei uns, zwischen Bankwelt und Industrie besteht, konnte es möglich werden, daß das englische Kapitalistenpublikum mit einer wahren Hochflut zweifelhafter oder geradezu fauler Gründungen überschwemmt worden ist. Auf der anderen Seite sind unter den von den Stockbrokers hinterlegten Effekten gerade in den letzten Jahren riesige Beträge von Goldminen und amerikanischen Eisenbahnshares gewesen, die in kritischen Zeiten gar nicht oder doch nur mit großen Verlusten zu verwerten waren, so daß die Joint-Stock-Banken häufig genug an die Hilfe der Bank von England appellieren mußten. So ist es denn auch nicht wunderbar, daß in allen größeren Wirtschaftskrisen, die im Laufe der Zeit in England hereingebrochen sind, eine sehr große Zahl von Depositenbanken in Konkurs gingen; und man hat auch in England selbst sich diesen Übelständen nicht verschlossen und Schritte unternommen, um der Schwäche des englischen Banksystems abzuhelfen. Alles das sollten diejenigen bedenken, die ohne genauere Kenntnis der Verhältnisse nicht müde werden, die Vorzüge des englischen Systems zu rühmen.

Das englische Bankwesen wird von dem System der Zentral-Notenbank nicht wesentlich bestimmt, wie man freilich auch andererseits sagen kann, daß die Politik der Bank von England durch die eigenartige Entwicklung, die das englische Wirtschafts- und Bankleben genommen hat, determiniert wird. Die Bank von England steht bekanntlich noch scharf auf dem Standpunkt des Currency-Prinzips und läßt jederzeit eine Verminderung in ihrem Notenumlauf eintreten, sobald ihr Metallvorrat sich verringert. Dieses Prinzip beruht auf der Furcht vor Preissteigerungen im Falle eines Überflusses an Zahlungsmitteln, und ist in der Theorie längst als unzutreffend bekannt; aber in der Praxis herrscht für die Bank von England immer noch die Peelsakte von 1844 und sie verlangt, daß alle Noten, die über den Betrag von 380 Millionen M. ausgegeben werden, durch Metall gedeckt sein müssen. Als Ersatz für die fehlenden Banknoten ist das Scheck- und Abrechnungswesen (Clearing) und das Giro vorzüglich ausgebildet. Und das ist wiederum nur möglich geworden durch das bereits erwähnte, bis in die kleinsten Flecken des Landes entwickelte und ausgebaute Filialsystem, das bei der größten Mehrzahl aller Geschäfte beide Kontrahenten als Inhaber von Bankkonten erscheinen läßt.

Ganz anders liegen die Verhältnisse in Frankreich, wo zunächst das Zentralinstitut das sog. Banking-Prinzip am strengsten vertritt; die Banque de France kommt dem

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 736. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/299&oldid=- (Version vom 20.8.2021)