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gewiß von Bedeutung, aber es gibt außerdem eine große Reihe anderer Faktoren, die auf den Diskont der Bank und damit auch auf den des ganzen Landes einwirken. Das gesamte Wirtschaftsleben der Nation bestimmt schließlich den Geldmarkt und die Zinssätze, und es heißt doch die Bedeutung dieser allgemeinen wirtschaftlichen Zustände verkennen, wenn man glaubt, daß Reichsbank und Großbanken lediglich durch andere Organisation des Systems in der Lage sein könnten, den Zinsfuß innerhalb eines Landes dauernd niedrig zu halten. Tatsache ist, daß die älteren und reicheren Kulturstaaten im allgemeinen den niedrigsten Durchschnittsdiskont haben, was doch beweist, daß der Volkswohlstand in unserem gesamten Geldsystem eine wichtige Rolle spielen muß. Freilich, es entscheidet hierbei nicht schon und an sich die Menge des vorhandenen nationalen Kapitals; wäre das der Fall, so müßte in Deutschland, wo sich das Nationalvermögen den in letzten Dezennien so außerordentlich stark gesteigert hat, der Zinsfuß ein niedriger sein; bekanntlich ist das gerade Gegenteil der Fall. Der Durchschnittssatz des Bankdiskonts betrug in den Jahren 1897–1908 in Deutschland 4,47%; in Frankreich 2,92%, in England 3,58%; das hängt mit dem Bau und Leben des betreffenden nationalen Wirtschaftskörpers eng zusammen. Frankreich ist ein Rentnerland, ein Land, in dem nicht annähernd so viel gearbeitet und geschaffen wird, und in dem nicht entfernt in dem Maße neue Werte erzeugt werden, wie etwa in Deutschland. Die Folge davon ist, daß in Deutschland viel mehr kurzfristige Leihkapitalien begehrt werden als in Frankreich, was zu einem erheblichen Teil, vielleicht entscheidend mit der immer noch starken Volksvermehrung zusammenhängt. Bei uns kommt hinzu, daß das stark arbeitende und auch entsprechend verdienende Volk zwar mehr produziert, aber auch erheblich mehr konsumiert, als ein sparsames Volk. Deutschland importiert einen erheblichen Teil seiner Nahrung- und Genußmittel aus dem Ausland, und da es diesen Import mit Geld bezahlen muß, so wirkt dieser Zustand unmittelbar auf den Geldmarkt ein. Deutschland verzehrt oder verbraucht annähernd die Hälfte sämtlicher eingeführten Waren und nur die knappe andere Hälfte des Imports sind Rohmaterialien zur Weiterverwertung. Frankreich dagegen führt nur etwa ein Sechstel an Lebensmitteln und Vieh ein und annähernd ebensoviel an Gebrauchsgegenständen; dagegen verwendet es zwei Drittel dieser Einfuhr für die Weiterverarbeitung, läßt es also produktiven Zwecken dienen. – Die Folge davon ist, daß bei uns zur Bezahlung der großen Summen für Ernährung und Gebrauch eine ganz gewaltige, kommerzielle und industrielle Tätigkeit eintreten muß. Trotzdem ist in Deutschland, freilich auch in Frankreich, die Handelsbilanz, also Verhältnis von Einfuhr zur Ausfuhr, ungünstig, wir führen eben immer noch weit mehr ein als aus. Deutschland steht hierbei bekanntlich in der Mitte zwischen Frankreich und England; in England ist die Einfuhr um 26,5% größer als die Ausfuhr; in Frankreich um 13,4%, in Deutschland um 17,7%. Wäre die Handelsbilanz allein entscheidend, so müßten alle drei Länder, und England am meisten, jährlich Gold zur Bezahlung des Minus exportieren. Indessen das Minus der Handelsbilanz wird in anderer Weise ausgeglichen; alle drei Länder sind Gläubigerländer und sie kompensieren einen großen Teil ihrer Schuld aus Warenimporten mit den Zinsen, die Schuldnerstaaten aus geliehenen Geldern (Anleihen) an sie zu entrichten

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 749. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/312&oldid=- (Version vom 20.8.2021)