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Handwerk
Von J. Wewer, Direktor der städtischen kaufmännischen Fortbildungsschule zu Wiesbaden


Geschichtlicher Rückblick.

„Kein Stand kann beanspruchen, auf Kosten der anderen besonders bevorzugt zu werden. Des Landesherrn Aufgabe ist es, die Interessen aller Stände gegeneinander abzuwägen und miteinander zu vermitteln, damit das allgemeine Interesse des großen Vaterlandes dabei gewahrt bleibe.“ Diese Worte Kaiser Wilhelms II. lassen sein Streben erkennen, allen Ständen im Reiche seine Untertanenfürsorge in gleichem Maße zuzuwenden. Wie ist seine Regierung während der nun 25jährigen Herrschertätigkeit Wilhelms II. in dieser Hinsicht einem der wichtigsten der erwerbenden Stände im Staate, dem Handwerksstande, gerecht geworden?

Die deutsche Handwerkerpolitik, d. h. die Gesamtheit der staatlichen Maßnahmen zur unmittelbaren Einwirkung auf das Handwerk, bietet in der Geschichte ein schwankendes Bild. Am Ende des 14. und in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts hatte das Zunftwesen seine höchste Blüte erreicht und das Handwerk gehoben. Dieser Blüte folgte in den nächsten Jahrhunderten der Verfall der Zunft und damit der Niedergang des Handwerks. Neben dem von innen kommenden Zersetzungsprozeß in den Zünften wirkte dabei eine Reihe äußerer Umstände mit: religiöse Wirren, Machtlosigkeit des deutschen Kaisertums, Umgestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse. Den ärgsten Stoß erlitt die Zunftverfassung durch die neuen wirtschaftspolitischen Anschauungen der Physiokraten, durch Adam Smith und seine Schule, sowie durch die Ideen der französischen Revolution. 1791 wurde in Frankreich durch Gesetz der Grundsatz der Gewerbefreiheit aufgestellt und durchgeführt; die unter französischer Herrschaft stehenden deutschen Landesteile schlossen sich an. Preußen folgte durch das Edikt vom 2. November 1810, das volle Gewerbefreiheit einführte. Zwar wurden dadurch die Zünfte nicht direkt aufgehoben, aber ihre Vorrechte beseitigt, und einen Beitrittszwang zur Zunft gab es nicht mehr. Die übrigen deutschen Staaten gingen innerhalb der nächsten 20 Jahre ebenfalls zur Gewerbefreiheit über. Die schroffe Einführung zeigte jedoch bald eine ungünstige Einwirkung auf das Handwerk, und damit setzte eine Bewegung ein zur Wiedereinführung einer zeitgemäßen Zunftverfassung. In einer Reihe von Bundesstaaten wurde das alte Zunftsystem wieder begünstigt, und in Preußen erschien 1845 die Allgemeine Gewerbeordnung, die zwar grundsätzlich auf dem Boden

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 775. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/338&oldid=- (Version vom 20.8.2021)