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mittels gemeinschaftlichen Geschäftsbetriebes bezwecken (Genossenschaften). Im Gesetz sind 7 Genossenschaftsarten genannt, und zwar Vorschuß- und Kreditvereine, Rohstoffvereine, Absatzgenossenschaften oder Magazinvereine, Produktivgenossenschaften, Konsumvereine, Werkgenossenschaften und Baugenossenschaften; damit ist aber die Fülle der genossenschaftlichen Möglichkeiten keineswegs erschöpft. Die Grundidee der Genossenschaft liegt in der gemeinschaftlichen Haftung für die Schulden der Genossenschaft. Das Gesetz läßt dafür drei verschiedene Formen zu: eingetragene Genossenschaft mit unbeschränkter Haftpflicht, mit unbeschränkter Nachschußpflicht und mit beschränkter Haftpflicht; nur bei den beiden ersten Haftformen haftet der Genosse mit seinem ganzen Vermögen, während bei der dritten Form die Haftsumme durch das Statut festgesetzt ist. Für jede Genossenschaft ist ein Vorstand und ein Aufsichtsrat aus den Genossen zu bestellen, das oberste Willenswerkzeug ist die Generalversammlung. Die Mehrzahl der deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften ist zu großen Verbänden zusammengetreten. Mit welchem Erfolge sich das Handwerk die Vorteile des Genossenschaftswesens zunutze gemacht hat, werden wir noch näher sehen. –

So ist die Gesetzgebung unter der Regierung Kaiser Wilhelms II. unermüdlich und in vielseitigster Weise durch eine ausgesprochen handwerkerfreundliche Politik tätig gewesen zur Erhaltung und Gesundung des Handwerksstandes.




Lage des Handwerks.

Wie ist es nun heute um das Handwerk bestellt? Wohl die Mehrzahl der Handwerker sucht den entscheidenden Grund für die Notlage einer Reihe von Handwerkszweigen ausschließlich in dem Einflusse der Gewerbefreiheit. Wenn das richtig wäre, so müßte die Einführung der Gewerbefreiheit im Jahre 1810 in Preußen sich für das Handwerk bald fühlbar gemacht haben; aber tatsächlich ist bis in die 30er Jahre der Stand des Handwerks in Preußen ziemlich unverändert geblieben. Die tiefer liegenden Ursachen des Niedergangs im Handwerk sind in den ungeahnten Fortschritten des 19. Jahrhunderts auf dem Gebiete der gewerblichen Technik, des Verkehrs und des Handels zu suchen. Wir folgen hier K. Bücher, der in seinem Werke „Die Entstehung der Volkswirtschaft“ fünf Hauptzüge des Umbildungsprozesses im Handwerk angibt: 1. Verdrängung des Handwerks durch gleichartige Fabrikproduktion. Nur selten droht hier die kapitalistische Großproduktion das Handwerk aus seinem ganzen Produktionsgebiet zu verdrängen, wie z. B. bei der Weberei, der Uhrmacherei, der Hutmacherei, der Schuhmacherei. Das Ergebnis ist bei dieser Entwicklung verschieden, je nachdem die Fabrikprodukte im Falle der Abnutzung eine Reparatur zulassen oder nicht; im ersteren Falle wird das Handwerk zum Reparaturgewerbe mit oder ohne Ladengeschäft, im letzteren Falle verschwindet es ganz. 2. Schmälerung seines Produktionsgebiets durch Fabrik oder Verlag. Diese tritt viel häufiger ein, indem entweder verschiedene Handwerke zu einer einheitlichen Produktionsanstalt verschmolzen werden (z. B. Korbmacher, Schreiner, Wagner, Sattler, Schmiede, Schlosser, Lackierer zu einer Kinderwagenfabrik), oder einzelne lohnende Artikel, die sich zur fabrikmäßigen oder hausindustriellen Massenfabrikation eignen,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 795. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/358&oldid=- (Version vom 20.8.2021)