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dem Handwerke entzogen werden (so hat z. B. der Schlosser die Herstellung des Schlosses abgeben müssen); oft zieht die Fabrik auch nur die Anfangsstadien der Herstellung an sich, so bezieht z. B. der Schmied die fertigen Hufeisen, der Bauschreiner die zugeschnittenen Parkettböden, auch das Aufkommen neuer Rohstoffe und Produktionsmethoden legt das Handwerk für einen Teil seines Herstellungsgebietes lahm, z. B. das Eindringen der Guttapercha in das Verbrauchsgebiet von Leder und Leinwand, die Drahtseilfabrikation im Gegensatz zur Hanfseilerei. 3. Angliederung des Handwerks an die Großunternehmung, wodurch es seine Selbständigkeit einbüßt (der große Fabrikbetrieb hat eine eigene Schlosser- und Reparaturwerkstätte, die große Brauerei oder Weinhandlung ihre Böttcherwerkstätte). 4. Verarmung des Handwerks durch Bedarfsverschiebung oder durch Aufhören des Bedarfs; so werden durch die großen Umwälzungen auf dem Gebiete des Reiseverkehrs die Sattler und Kürschner berührt, zinnerne Teller und Schüsseln sind zum Schaden für die Zinngießer nicht mehr in Mode. 5. Herabdrückung des Handwerks zur Heim- und Schwitzarbeit durch das Magazin. Hier kommt das Handwerk in völlige Abhängigkeit vom Handel, indem seine Erzeugnisse nur noch durch den Verkauf in den Läden abgesetzt werden können. Das Publikum neigt immer mehr dazu, dort zu kaufen, wo sich größere Auswahl findet und es rasch mit allen Bedarfsartikeln versorgt wird; so läßt es den Handwerker in seiner Werkstatt im Dachgeschoß oder Hinterhause unbeachtet. „In allen Fällen,“ sagt Bücher, „wo das Handwerk gebrauchsfertige, raschem Verderben nicht ausgesetzte Ware liefert, die in bestimmten Typen für Durchschnittsbedürfnisse hergestellt werden kann, ist es in höchstem Maße gefährdet.“

Lebenskraft des Handwerks.

Gegen die genannten Umbildungs- und Aufsaugungsprozesse ist sowohl der einzelne Handwerker als die Organisation im allgemeinen machtlos. Trotzdem wird sich das alte Handwerk in einer Menge von mittleren und Kleinbetrieben erhalten. Es gibt Handwerke, die nur ohne Maschinen oder wenn auch mit einigen Maschinen, so doch nur im kleinen betrieben werden können. Es gibt ferner Handwerke, bei denen ein mittlerer Betrieb der natürliche ist, die sich also zum Großbetrieb nicht eignen. Andere Gewerbe können gleich vorteilhaft in der Form des Handwerks und der Fabrik ausgeübt werden. Es gibt endlich Handwerke, deren Erfolg auf der durch keine Maschine zu ersetzenden Kunstfertigkeit der menschlichen Hand beruht. Besonders auf dem Lande, das heute mehr als die Hälfte der Handwerksmeister zählt, liegen die Verhältnisse für das Handwerk günstig, da sich hier die geschilderten Ursachen der Zurückdrängung teilweise nur in abgeschwächtem Maße geltend machen; hier herrscht noch die Kundenproduktion vor. Indessen werden auch die Städte immer noch eine Reihe von Existenzmöglichkeiten für das Handwerk offen halten, obwohl hier der Wettkampf mit der Fabrik weit schwerer ist; besonders in den Großstädten bringt die rasche Neugestaltung des gewerblichen Lebens mancherlei Arbeitsgelegenheiten, wie für das Baugewerbe, für Installation und für größere Reparaturen aller Art. Zu beachten ist auch, daß in den Städten der gewandte Meister sich gerade durch die Gewerbefreiheit leichter zum Unternehmer emporschwingen kann. Der Volkswirtschaftler Dr. Böhmert hat jüngst das Resultat

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 796. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/359&oldid=- (Version vom 11.12.2022)