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Provinzen, Reform des Verdingungswesens durch Vergebung zum angemessenen Preise und strikte Beachtung der staatlichen Verdingungsordnungen durch die nachgeordneten Stellen, Bekämpfung des Wanderlager- und Hausierunwesens, Ausbau der Warenhaussteuer, Verbot des Warenhandels durch Beamte, gerechte Besteuerung der Konsumvereine, Reform der Gefängnisarbeiten sowie der Arbeiten der staatlichen und kommunalen Betriebe, Einführung des 2. Abschnitts des Gesetzes zum Schutze der Bauforderungen und Errichtung einer besonderen Abteilung im Ministerium für Handel und Gewerbe.

Kritische Untersuchung.

Nur die wichtigsten Punkte dieses großen Wunschzettels können wir einer kurzen kritischen Untersuchung unterziehen. Zunächst geht aus den früheren Ausführungen hervor, daß eine Reihe von Wünschen inzwischen schon durch die Gesetzgebung der letzten Jahre ganz oder teilweise Berücksichtigung gefunden hat [Gesetz über die Sicherung der Bauforderungen (1909), letzte Fassung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (1909), Reichsversicherungsordnung (1911), Befähigungsnachweis im Baugewerbe (1907), kleiner Befähigungsnachweis (1908)].

Allgemeine Zwangsinnung. Der „große Befähigungsnachweis“.

Von den anderen Punkten interessieren zunächst die Einführung der allgemeinen Zwangsinnung und des großen Befähigungsnachweises. Die allgemeine Zwangsinnung wird von der Regierung wegen der schon erwähnten Erfahrungen bei der statistischen Erhebung von 1905 wohl kaum zur Einführung gelangen; sie eignet sich eben nicht für alle Bezirke und für jedes Gewerbe. – Der sog. „große Befähigungsnachweis“, nach dessen Einführung nur der ein Gewerbe selbständig betreiben darf, der seine Befähigung dazu durch eine Fachprüfung nachgewiesen hat, wird noch immer in manchen Handwerkskreisen erstrebt. Die Anhänger versprechen sich von seiner Einführung eine Vervollkommnung im Handwerk, die auch den Konsumenten zugute kommen würde, Schutz vor drückender Konkurrenz und Hebung der Standesehre. Indessen ist zu bedenken, daß die Ablegung der Meisterprüfung allein keine Gewähr für die erfolgreiche Betätigung des Handwerkers im gewerblichen Leben bieten kann, da dafür nicht in letzter Linie sittliche und angeborene kaufmännische Eigenschaften in Frage kommen. Ferner geht die Konkurrenz hauptsächlich von den Fabriken aus und wird dieselbe bleiben wie vorher, da die Fabriken wohl kaum in den Befähigungsnachweis einbezogen werden würden. Die Standesehre endlich kann schon heute durch den Schutz des Meistertitels gehoben werden. So bleibt von den Vorteilen nicht viel übrig. Dagegen sind die zu erwartenden Nachteile nicht zu unterschätzen. Durch den Befähigungsnachweis wird die Zahl der Selbständigen beschränkt, ein Übelstand, den man sonst doch in unserer modernen wirtschaftlichen Entwicklung stets beklagt. Ein weiteres Bedenken liegt darin, daß die Prüfung vor Konkurrenten abgelegt werden muß. Ferner wird es große Schwierigkeiten machen, die Handwerksbetriebe von den Fabrikbetrieben zu trennen; mancher größere Handwerksbetrieb wird sich „Fabrik“ nennen, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 800. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/363&oldid=- (Version vom 20.8.2021)