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herbeiführen und die Geschäftsmittel der Genossenschaften vergrößern; so vertritt sie für den Handwerker dieselbe Stelle wie die Reichsbank für den Kaufmann. Auch andere Bundesstaaten unterstützen den genossenschaftlichen Kredit durch Staatshilfe. Neuerdings will man auch eine neue, in Österreich schon längere Zeit gebräuchliche Kreditform anwenden, die Diskontierung von Buchforderungen des Handwerkers; er zediert diese ausständigen Forderungen der Genossenschaft und erhält dann von ihr darauf Vorschüsse. – Durch die Rohstoffgenossenschaften sichern sich die Handwerker die Vorteile des Großeinkaufs: Verbilligung des Produkts und Lieferung besserer Qualitäten. Der Genosse braucht keine teuren und großen Lagerbestände zu führen, auch treten die Mitglieder desselben Geschäftszweiges sich menschlich näher. Eine Glaser-Einkaufsgenossenschaft in Berlin hat einen jährlichen Warenumsatz von mehreren Millionen Mark. – Die Absatzgenossenschaft (Magazinverein) soll dem Handwerker die Möglichkeit bieten, die hergestellte Ware dem Publikum in der Form zu zeigen und zum Kauf anzubieten, wie es der Großbetrieb tut. Es handelt sich gewöhnlich um Beschaffung eines gemeinsamen, großen, gut ausgestatteten Ladens in passender Geschäftslage. Sie hat sich besonders für das Schreiner- und Schuhmachergewerbe entwickelt. – Bei der Produktivgenossenschaft handelt es sich nicht bloß um gemeinsame Verkaufsräume, sondern um den Verkauf der von den Genossen hergestellten Erzeugnisse auf gemeinschaftliche Rechnung und Gefahr. Bei ihrer entwickelten Form muß der einzelne Handwerker seine geliebte Selbständigkeit aufgeben und wird zum Arbeiter der Genossenschaft; sie hat sich deshalb trotz mancher Vorteile, die naturgemäß in dieser Art des Zusammenschlusses liegen, nur wenig entwickelt. – Die Werkgenossenschaften stellen ihren Mitgliedern die Maschinenkraft, auf der besonders das Übergewicht der Fabrik beruht, zur Verfügung, indem sie auf gemeinschaftliche Rechnung Werkzeuge, Kleinkraftmaschinen, Arbeits- oder Werkzeugmaschinen beschaffen und sie ihnen zur Benutzung überlassen. Sie haben besondere Bedeutung gewonnen im Schreiner- und Schuhmachergewerbe.

Am 1. Januar 1912 bestanden im Deutschen Reiche 31 981 Genossenschaften (einschließlich der landwirtschaftlichen); die Statistik umfaßt davon 31 684 Genossenschaften mit 4 778 666 Mitgliedern. Der Umsatz sämtlicher berichtenden Genossenschaften bezifferte sich 1911 in der Gewährung von Kredit, Lebensmitteln, Wohnungen, Rohmaterialien usw. auf rund 26 Milliarden Mark, sie arbeiteten mit mehr als 4 Milliarden Mark fremder Gelder. Es bestanden 18 126 Kreditgenossenschaften (unter ihnen allerdings mehr als 14 000 landwirtschaftliche), 934 gewerbliche Rohstoff- und Magazingenossenschaften (einschließlich Wareneinkaufsvereine der Händler), 454 gewerbliche Produktivgenossenschaften und 944 Werkgenossenschaften. Abgesehen von den Kreditgenossenschaften hat sich demnach das gewerbliche Genossenschaftswesen verhältnismäßig nur langsam entwickelt, wenngleich gerade in den letzten Jahren erfreuliche Fortschritte zu verzeichnen sind. So zählte man 1907 erst 380 gewerbliche Rohstoff- und Magazingenossenschaften, 275 gewerbliche Produktivgenossenschaften und 390 Werkgenossenschaften. Vor einigen Jahren schätzte man noch die Zahl der selbständigen Handwerker, die sich am gewerblichen Genossenschaftswesen beteiligten, auf wenig mehr als 10%. Bei fortschreitender theoretischer

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 808. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/371&oldid=- (Version vom 20.8.2021)