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Geschenk an die arbeitenden Klassen sein. Die Kosten sollten durch Einführung des Tabakmonopols – als „Patrimonium der Enterbten“ – gedeckt werden. In der Thronrede von 1881 war das deutlich zum Ausdruck gekommen, allein im Reichstage wurde die Monopolvorlage mit erdrückender Mehrheit (276 gegen 43 Stimmen) abgelehnt. Trotzdem hielt Bismarck an seinem Gedanken fest, die Arbeiter möglichst von allen Beiträgen freizulassen.

Nur der entschiedene Wiederspruch des Reichstages bewirkte es, daß der Reichsbeitrag bei der Unfallversicherung aufgegeben und auch bei der Invalidenversicherung neben den gleichen Beiträgen der Arbeitgeber und Arbeiter nur ein einheitlicher Reichszuschuß von 50 M. zu jeder Alters- und Invalidenrente vorgesehen wurde.

Bismarck ging überhaupt in seiner ganzen Sozialpolitik von einer mehr patriarchalischen Auffassung aus. Er verkannte durchaus Charakter und Ziele der modernen Arbeiterbewegung. Die Arbeiter verlangten „Rechte“ und nicht „Almosen“. Vor allem beanspruchten sie Schutz gegen die wirtschaftliche Übermacht und die rücksichtslose Ausnutzung seitens der Arbeitgeber. Sie forderten Schutz der Kinder gegen die vorzeitige, Gesundheit, Erziehung und Sittlichkeit gefährdende Beschäftigung in Hausindustrie und Fabriken. Sie beklagten sich über die zunehmende Sonntagsarbeit in Fabriken, Wertstätten und Verkaufsstellen. Sie wiesen hin auf die schweren Schädigungen für Gesundheit, Sittlichkeit und Familienleben, welche mit der schrankenlosen Ausnutzung der Arbeiterinnen verknüpft waren und welche nicht bloß die Volkskraft der gegenwärtigen Generation, sondern auch die Zukunft unseres Volkes gefährden mußten. Sie berichteten über bittere Erfahrungen und Rücksichtslosigkeiten bei Gestaltung und Handhabung der Fabrikordnungen, der Strafen und Abzüge, der Kündigungsfristen und Zeugnisse usw. Es waren die Klagen und Anklagen nicht bloß sozialdemokratisch verhetzter Elemente, sondern auch derjenigen Arbeiterkreise, die treu zu Kaiser und Reich hielten und ehrlich auf dem Boden der bestehenden Gesellschaftsordnung eine Besserung der Verhältnisse erstrebten und erhofften. Eingehende, auf Veranlassung des Reichstages (30. 4. 73) ins Werk gesetzte Erhebungen (1874 und 1875), deren Ergebnisse im Reichsamt des Innern zusammengestellt und veröffentlicht waren (Berlin, Heymann 1877), die alljährlichen Berichte der Fabrikinspektoren hatten die Berechtigung dieser Klagen durchaus bestätigt. Eine Fülle von Anträgen und Interpellationen im Reichstage (1877, 1878, 1882, 1884/85 und dann alljährlich) hatten immer wieder dringende Abhilfe verlangt. Ein vollständiger Gesetzentwurf betreffend die Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit (1887) und ein solcher zum Schutz der Sonntagsruhe (1888) waren auf Grund der Anträge des Zentrums nach vielfachen gründlichen Kommissionsberatungen mit erdrückender Mehrheit vom Reichstag angenommen und dann immer wieder als solche der Regierung mit steigenden Mehrheiten zur Annahme empfohlen worden. Von allen Seiten war anerkannt, daß auf diesem Gebiet des Arbeiterschutzes Deutschland gegenüber den anderen Staaten: England, Österreich, Schweiz im Rückstand geblieben sei. Immer wieder war geltend gemacht worden, daß die Verhütung von Krankheit, von Unfällen, von Invalidität – der Arbeiterschutz – noch wichtiger sei als die Entschädigung der wirtschaftlichen Folgen, daß auch die Arbeiter selbst auf die Erhaltung ihrer Gesundheit, die Sicherung eines geordneten Familienlebens und der persönlichen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 818. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/381&oldid=- (Version vom 20.8.2021)