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Entfaltung verbleibe, durch welche die gesetzlichen Anordnungen unterstützt und befruchtet werden müßten, um zur vollen Wirksamkeit zu gelangen.“ (Rede im Staatsrat.) Er appellierte an „die verständnisvolle und freudige Mitarbeit aller Kreise der Bevölkerung, insbesondere der Arbeiter, um deren Wohlfahrt es sich handle, und der Arbeitgeber, welche bereit sind, die für sie erwachsenden Opfer zu bringen“. (Rede bei der Ausstellung für Unfallverhütung in Berlin 1889.) Alle, welche ihm in seiner vornehmsten Sorge um das Wohl der arbeitenden Klasse behilflich sein wollen, sind „ihm von Herzen willkommen, wer sie auch seien“. (Beim Festmahl des Brandenburger Provinziallandtages 1890.) So wurden alle, die zu Kaiser und Reich hielten, zur sozialen Mitbetätigung in der Richtung der edlen Ziele der Februar-Erlasse aufgerufen. Der Kaiser wie die Kaiserin nahmen auch persönlich freudigen Anteil an allen Bestrebungen zur Hebung der arbeitenden Klassen: Unfallverhütung, Wohnungsfürsorge, Bekämpfung der Tuberkulose, der Säuglingssterblichkeit usw. Eine besondere Ordensauszeichnung, „Kaiser Wilhelm-Orden“, sollte der Anerkennung hervorragender sozialer Verdienste dienen. Alle, welche sich in den Dienst der sozialen Ideen stellten, durften wohlwollender Unterstützung sicher sein. Ein neuer sozialer Geist zog ein in die öffentlichen Verwaltungen. Die ganze öffentliche Meinung wurde mit sozialem Öl durchtränkt. Es ging ein Frühlingswehen durchs Land, und eine Fülle schöpferischer Anregungen, die der kalte Winter eines kurzsichtigen Egoismus und bureaukratischer Engherzigkeit im Banne gehalten hatte, sprießten empor und reiften zu reicher Frucht. Alle Faktoren des öffentlichen Lebens wurden mit fortgerissen von diesem neuen Geiste: Staat und Gemeinde, Schule und Kirche, Wissenschaft und Presse, Arbeitgeber und ihre Organisationen wie Arbeiter. So war es nicht Zufall, daß mit der Entwicklung der Gesetzgebung insbesondere auch die Bestrebungen der freien sozialen Wohlfahrtspflege und idealerer Auffassungen und neuer Gestaltung der Armenpflege gleichen Schritt hielt. (Vgl. Soziale Kultur und Volkswohlfahrt während der ersten 25 Regierungsjahre Kaiser Wilhelms II. Berlin, Stilke 1913.) Und nicht bloß in Deutschland, sondern weit über unsere deutsche Grenze hinaus, in der ganzen modernen Kulturwelt wurden die Ideen der Februar-Erlasse lebendig und fruchtbar.

Mit besonderem Dank wurde es von den deutschen Katholiken empfunden, daß der Kaiser sich in einem persönlichen Schreiben an den hl. Vater wandte und den Fürstbischof Dr. Kopp (Breslau) als Delegierten zur Teilnahme an den Beratungen bestimmte. Papst Leo XIII., der schon in einer Ansprache an einen Pilgerzug französischer Arbeiter am 20. Oktober 1889 sich warm für die Forderungen des Arbeiterschutzes ausgesprochen hatte, dankte in einem eingehenden Schreiben, worin er die freudige Unterstützung der Bestrebungen durch die moralische Einwirkung der katholischen Kirche und des Klerus in Aussicht stellte. In diesem Sinne richtete dann der hl. Vater unterm 20. April ein Schreiben an den Herrn Erzbischof Krementz (Köln) als Vorsitzenden der jährlichen Bischofskonferenz in Fulda. Die deutschen Bischöfe nahmen daraus Veranlassung, in einem besonderen ausführlichen Hirtenbrief vom 23. August ihre Auffassung und Stellung zur Arbeiterfrage darzulegen und Klerus und Volk zu nachdrücklicher Mitarbeit zu ermahnen. Im September 1890 tagte in Lüttich unter dem Vorsitz des Bischofs Doutreloux eine katholische internationale Arbeiterschutzkonferenz, an der zehn Bischöfe (darunter aus Deutschland Bischof Korum-Trier und Weihbischof Fischer-Köln) teilnahmen, deren Beschlüsse über die der Berliner Arbeiterschutzkonferenz weit hinausgingen. Am 15. Mai 1891 folgte dann die grundlegende Enzyklika Leos XIII. über die Arbeiterfrage, welche die letzten, speziell bei den Katholiken Frankreichs und Belgiens noch bestehenden Bedenken gegen eine staatliche Intervention beseitigte und damit der deutschen Auffassung wirkungsvoll die Wege geebnet hat.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 828. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/391&oldid=- (Version vom 20.8.2021)