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und zum Gemeingut der ganzen Nation zu machen. Das ist eine Erziehungsaufgabe, die Generationen umfassen und vor allem bei der Jugend einsetzen muß. Die Reform muß vor allem von den lebendigen Kräften des Christentums getragen und gestützt sein.

Wirkungen der Sozialreform.

Was man von der Sozialreform vernünftigerweise erwarten durfte, hat sich zum guten Teil erfüllt. Die wirtschaftliche, gesundheitliche und soziale Lebenshaltung unseres Arbeiterstandes hat sich mächtig gehoben. Die berechtigten stürmischen Anklagen haben sich gemildert; ihnen sind die Unterlagen zum guten Teil entzogen. Die Stimmen dumpfer Verzweiflung und roher Gewalt sind verstummt. Das Vertrauen in die Entwickelung der Dinge ist gewachsen. Revisionismus und selbstvertrauende Gewerkschaftsarbeit gewinnen an Boden. Die Sozialdemokratie hat zwar an Zahl zugenommen, aber zu wesentlichem Teil nur, weil man in ihr die treibende Kraft zum Fortschritt erblickte. Die wissenschaftlichen Unterlagen des Sozialismus: die Verelendungstheorie und die Katastrophentheorie mit der Vorstellung einer plötzlichen, gewalttätigen Umwandlung aller Verhältnisse, die Konzentrationstheorie mit dem Ausblick auf die „naturnotwendige“ Überführung aller privaten Produktionsmittel in das Eigentum der Gesellschaft, der Glaube an die „eine reaktionäre Masse“ der bürgerlichen Parteien usw. sind erschüttert. Ihr Erfurter Programm ist durch die Kritik aus den eigenen Reihen vollends unterhöhlt, und Anläufe zur Aufstellung eines neuen Programms sind aufgegeben. Der Glaube an eine neue gesellschaftliche Ordnung voll Harmonie, Glück und Frieden – den Zukunftsstaat – wird in den eigenen Reihen nicht mehr ernst genommen. Statt solchen Zukunftsphantasien nachzujagen, rechnet man mit der bestehenden Gesellschaftsordnung und sucht hier Einfluß zu gewinnen. Während die sozialdemokratische Partei im Reichstage noch alle grundlegenden Gesetze der Arbeiterversicherung und des Arbeiterschutzes ablehnte, hat sie den Novellen ihre Zustimmung gegeben. Statt des bloßen bittern Hohnes auf die „Bettelpfennige“ der Arbeiterversicherung möchte sie heute für sich das Verdienst ihrer Einführung in Anspruch nehmen. Die „Sozialistischen Monatshefte“, das „Korrespondenzblatt“ der Generalkommission der sozialdemokratischen Gewerkschaften Deutschlands usw. vertreten mit Nachdruck den Glauben an den Fortschritt der arbeitenden Massen. Im Wetteifer mit dem „Vorwärts“ verteidigen sie unsere Sozialreform gegen die Angriffe des Professor Bernhard („Unerwünschte Folgen der deutschen Sozialpolitik“, Berlin 1912) und verlangen ihren weiteren Ausbau[1]. Statt des bloßen Räsonierens arbeiten die sozialdemokratischen Arbeiter in den sozialpolitischen Organisationen: Krankenversicherung, Unfallversicherung, Invalidenversicherung, Gewerbegerichten usw. eifrig mit. Wenn auch die parteipolitische Ausnutzung mitspricht, jedenfalls sind sie gezwungen, auch mit den Schwächen, Unehrlichkeiten und Leidenschaften der „Genossen“ den Kampf aufzunehmen


  1. Vgl. „Sozialistische Monatshefte“ 1912 S. 1496ff., 1913 S. 3ff., 110ff.; „Korrespondenzblatt“ 1913, Nr. 4–8. P. Kampffmeyer, Vom Kathedersozialismus zum Kathederkapitalismus. Ludwigshafen 1913.
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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 860. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/423&oldid=- (Version vom 20.8.2021)