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beim weiblichen im Alter von 30–40 Jahren außerordentlich gesunken, aber auch darüber hinaus hat sie eine phänomenal zu nennende, in der Geschichte des deutschen Volkes sicher ähnlich nie vorher zu registrieren gewesene Abnahme erfahren. Insgesamt rücken heute sehr viel größere Massen als früher in das sogenannte mittlere Alter ein. Jenseits des sechzigsten, und zumal siebzigsten Jahres ist die Sterbewahrscheinlichkeit nicht in dem Maße wie in den jüngeren Altersklassen zurückgegangen, was sich aus dem Zuzug erklären dürfte, den die mittleren Altersstufen heute durch Personen erfahren, die früher in jüngerem Alter abgegangen wären und die die Durchschnittsqualität der in das mittlere Alter Gelangenden herabsetzen.

Die Zahl der Sterbefälle war im Jahre 1910:1 103 722. Es ist die niedrigste Ziffer seit der Gründung des Reichs, trotzdem die Bevölkerung seitdem um 58% gewachsen ist.

Absturz der Geburtlichkeit.

Ohne diesen Rückgang der Sterblichkeit hätte das Deutsche Reich heute keine Bevölkerungsvermehrung mehr! Bei der Sterblichkeitsquote von 1872 wären im Jahre 1910 1 986 000 Menschen gestorben, wogegen nur 1 983 000 geboren wurden. In diesen Mißverhältnissen offenbart sich der gleichzeitig mit dem Rückgang der Sterblichkeit erfolgte Absturz der Geburtlichkeit, das „Bevölkerungsproblem“ unserer Tage.

Es kamen auf 1000 Einwohner des Deutschen Reichs im Jahresdurchschnitt Geborene:

1871/80       40,7
1881/90 38,2
1911 29,5

In der Hauptsache entfällt danach der Rückgang der Geburtlichkeit auf die Regierungszeit unseres Kaisers. Der Rückgang vorher war verhältnismäßig unbedeutend. Zu demselben Ergebnis gelangt man, wenn man die Zahl der Geborenen statt zu der gesamten Bevölkerung zu der Zahl der 16 bis 60 Jahre alten weiblichen Personen in Beziehung setzt. Etwas stärker als diese sog. allgemeine Fruchtbarkeitsziffer ist hingegen die sog. „eheliche Fruchtbarkeitsziffer“ gesunken, d. h. die auf je 1000 Ehefrauen im Alter unter 60 Jahren entfallene Geburtenziffer. Betrachtet man die Regierungszeit Kaiser Wilhelms II. wieder für sich, so bestätigt sich, daß dem letzten Jahrzehnt vorbehalten war, mehr zu „leisten“ als der ganzen Zeit vorher. Im vorigen Jahrhundert langsam in gleitende Bewegung gekommen, wird die Raschheit, mit der die Kugel abwärts rollt, in dem unseren (fürs erste) immer größer. Es hängt das mit der Klassenschichtung in unserer Gesellschaft und dem Aufbau der Massen als Pyramide zusammen. Infolgedessen traf die Übung der Beschränkung der Kinderzahl, indem sie von oben nach unten sickerte, immer breitere Schichten und ließ, auf die gesamte Volkszahl aufgetragen, den Rückgang immer größer werden. Trotz des ungestümen Tempos der letzten Zeit stehen wir erst im Beginn des Prozesses. Der zu durchmessende Weg liegt aller Wahrscheinlichkeit nach erst zum kleinsten Teile hinter uns.

Das Maß des bisherigen Rückgangs ist in den einzelnen Reichsteilen ein sehr verschiedenes. In Preußen war der Absturz am größten in Berlin, im Deutschen Reich am

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 864. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/427&oldid=- (Version vom 9.3.2019)