Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 2.pdf/432

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

und Gesellschaftslebens" fügt sich als Teilerklärung Oldenbergs Hinweis auf die Bedeutung der prozentualen Zunahme der städtischen Bevölkerung, denn die Stadt ist der Ort, wo der Prozeß die Rationalisierung am frühesten und intensivsten einsetzt.

Der Geburtenüberschuß in Gegenwart und Zukunft.

Es ist von durchschlagender Wichtigkeit für die Prognose und für die weitere Behandlung des Problems, ob die von uns gegebene Erklärung des Geburtenrückgangs, die übrigens die daneben wirkenden Momente nicht übersehen und in ihrer Bedeutung nicht verkleinern will, im Kern das Richtige trifft. Ist das der Fall, so ist nämlich ein Ende des Geburtenrückgangs noch auf lange hinaus nicht abzusehen. Da aber der Rückgang der Sterblichkeit, der ja heute schon hinter dem Rückgang der Geburten zurückbleibt, letzterem auch weiterhin nicht ebenmäßig folgen kann, so muß allmählich der Geburtenüberschuß kleiner und kleiner werden, ähnlich wie seit längerem in Frankeich. In Frankreich haben das katholische Bekenntnis der Bevölkerung – die katholische Religion bezeichnet den Gebrauch von Präventivmitteln als Todsünde – und die starke Quote ländlicher Bevölkerung dem Rückgang der Geburten entgegengewirkt, trotzdem ist Frankreich jetzt bereits bei einer Geburtenziffer angekommen, welche die durch die Sterblichkeit gerissenen Lücken nur knapp und nicht jedes Jahr mehr auszufüllen vermag. Und nach der Voraussage eines so berufenen Mannes wie Paul Leroy-Beaulieu geht Frankreich nunmehr Zeiten entgegen, wo die Zahl der Sterbefälle über die der Geburten immer stärker hinauswachsen dürfte. Die große Frage ist nun, ob Frankreich damit der kommenden Entwicklung in Deutschland den Spiegel vorhält. Darauf ist zu antworten, daß in Deutschland einer so weitgehenden Beschränkung der Kinderzahl wie in Frankreich der expansive Charakter der Volkswirtschaft, d. h. die reichlichere und wachsende Verwendungsgelegenheit für Arbeitskräfte, wie weiterhin der Umstand entgegenwirkt, daß die Religion, welche Kinder als göttlichen Segen betrachtet, bei uns mehr wirkliche Bekenner als in dem seit langem atheistischen Frankreich hat. Ob diese Kräfte sich aber auf die Dauer als stark genug erweisen werden, dem Rückgang der Geburten zu steuern, muß mindestens als zweifelhaft bezeichnet werden. Es will beachtet sein, daß es auch in den katholischen Bezirken kaum ein „Halten“ mehr gibt. Das besagen beispielsweise die folgenden Daten, in denen einige spezifisch katholische Provinzen einigen spezifisch protestantischen mit z. T. verwandten wirtschaftlichen Verhältnissen gegenübergestellt werden:

vorwiegend katholische Provinzen Preußens
Fruchtbarkeit 1901/1905 1906/1910
Westpreußen 192,7 180,9 –11,8
Posen 191,1 180,1 –11,0
Rheinprovinz 163,9 149,7 –14,2
vorwiegend protestantische Provinzen Preußens
Fruchtbarkeit 1901/1905 1906/1910
Ostpreußen 165,6 153,8 –11,8
Pommern 157,8 142,7 –15,1
Hessen-Nassau 129,7 119,1 –10,6
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 869. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/432&oldid=- (Version vom 9.3.2019)