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zeigte sich, daß dem ursprünglichen Enthusiasmus, mit dem die Öffentlichkeit die Elektrisierungsfrage aufgenommen hatte, an vielen Stellen ein gewisser Skeptizismus gefolgt ist, der allerdings weniger durch praktische Mißerfolge als dadurch veranlaßt war, daß die Hoffnungen, die man auf einen raschen Siegeslauf der elektrischen Vollbahnlokomotive gesetzt hatte, sich doch langsamer zu erfüllen scheinen, als man erwartet hatte.

Die Wissenschaft verspricht sich von dem elektrischen Bahnbetrieb große wirtschaftliche Erfolge. Die zentralisierte Erzeugung elektrischer Energie in einer ortsfesten Maschinenanlage ist, auch wo keine Wasserkräfte zur Verfügung stehen, der Dampferzeugung im Lokomotivkessel wirtschaftlich überlegen. Die elektrische Lokomotive braucht keinen Kessel, kein Brennmaterial und Speisewasser mitzuführen, sie ist jeden Augenblick betriebsbereit. Ihre Bedienung und Unterhaltung ist einfacher, die Bedienung mehrerer elektrischer Lokomotiven im gleichen Zug kann von einem Punkt aus geschehen, die Rauchplage des Dampfbetriebes entfällt.

Aber bei der Überführung des Problems der elektrischen Zugsbewegung in die Wirklichkeit haben sich, wie bereits angedeutet wurde, technische und wirtschaftliche Schwierigkeiten ergeben, die zurzeit noch nicht voll überwunden sind. Die Dampflokomotive blickt auf eine 100jährige Entwicklung zurück, die elektrische Lokomotive für einphasigen Wechselstrom, der die für den Fernbahnbetrieb geeignetste Form der Energieübertragung zuläßt, ist noch nicht 10 Jahre alt. Wenn man jedoch die überwältigende Entwicklung betrachtet, die die moderne Technik in allen ihren Zweigen genommen hat, wird man zuversichtlich erwarten dürfen, daß es in nicht ferner Zeit gelingen wird, die elektrische Lokomotive als ebenbürtige Zugkraft in den Vollbahnbetrieb einzuführen.

Heute schon hat die elektrische Zugkraft die Dampfkraft verdrängt, wo es sich um reine Tunnel- und Untergrundbahnbetriebe handelt, vor allem aber im großstädtischen Schnellbahnbetrieb, bei dem eine große Zahl von Zügen in dichtester Folge zu befördern und wegen der zahlreichen Haltstationen Anfahrbeschleunigungen notwendig sind, wie sie die Dampflokomotive auch bei außergewöhnlich starken Abmessungen nicht zu bieten vermag. Auch da, wo billige Wasserkräfte zur Verfügung stehen, hohe Kohlenpreise zu bezahlen und ungünstige Steigungsverhältnisse zu überwinden sind, wird wohl heute schon der elektrische Betrieb dem Dampfbetrieb wirtschaftlich überlegen sein. Immer aber setzt er wegen der hohen festen Kosten, die er erfordert, einen bestimmten Grad von Betriebsintensität voraus. Der elektrische Betrieb ist seinem Wesen nach die wirtschaftlich und technisch geeignetste Betriebsform für die höheren Intensitätsstufen des Eisenbahnverkehrs. Für Bahnen mit wenig dichtem und wenig gleichmäßig verteiltem Verkehr wird er mit gleichem Erfolge nicht verwendet werden können. Ob endlich die militärischen Bedenken gegen die ausschließliche Anwendung des elektrischen Betriebes auf den großen Fernbahnen sich völlig werden beseitigen lassen, mag hier dahingestellt bleiben.

Voraussichtlich wird der Ausgang des Kampfes zwischen den beiden Energiearten um die Herrschaft im Eisenbahnbetrieb nicht der sein, daß die alte Technik von der neuen völlig verdrängt wird. Es wird vielmehr auch hier wie so häufig in unserem vielgestaltigen Wirtschaftsleben eine Arbeitsteilung eintreten, bei der für jede der beiden Betriebsformen ein Anwendungsgebiet bleibt, das ihr von der anderen nicht mehr streitig gemacht werden kann.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 885. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/448&oldid=- (Version vom 20.8.2021)