Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 2.pdf/534

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Staat und Kirche
Von Geh. Justizrat Professor Dr. Zorn in Bonn,
Mitglied des Herrenhauses und Kronsyndikus


Das heutige Verhältnis von Staat und Kirche in Preußen läßt sich nur aus der Geschichte verstehen.

I. Durch die Märkische Kirchenordnung von 1540 war Brandenburg eingetreten in die Reihe der evangelischen Territorialstaaten des alten Deutschen Reiches. Nach den Grundsätzen der Zeit hatte der Glaubenswechsel des Kurfürsten den Glaubenswechsel der Untertanen zur notwendigen Rechtsfolge (cujus regio, ejus religio); denen, die diese Rechtsfolge nicht anerkennen wollten, wurde gestattet, das Land zu verlassen. Der Kurfürst wurde nach den damals schon feststehenden Grundsätzen der lutherischen Kirchenverfassung oberster Bischof der Landeskirche; ein zu Kölln a. d. Spree errichtetes Konsistorium wurde zur Ausübung des landesherrlichen Summepiskopats bestellt. In allen Punkten teilte Brandenburg die damalige Entwickelung der evangelischen Territorien des alten Reiches.

II. Als 1611 Kurfürst Johann Sigismund die reformierte Lehre für sich und sein Haus annahm, setzten die Stände in der damaligen Blüte ihrer Macht durch, daß die Untertanen nicht, wie es die Grundsätze des herrschenden Staatskirchenrechtes, das sog. jus reformandi, erfordert hätten, dem Konfessionswechsel des Kurfürsten folgen mußten, sondern beim lutherischen Bekenntnis verbleiben durften: dies war der erste Schritt auf dem Wege zur späteren und heutigen Religionsfreiheit in Brandenburg-Preußen.

III. Ungleich wichtiger aber als diese innerhalb des evangelischen Bekenntnisses vollzogene staatsrechtliche Entwickelung war die grundsätzliche Gestaltung, welche um dieselbe Zeit das Staatskirchenrecht in Ostpreußen und in den Ländern der Jülich-Kleve-Markschen Erbschaft erfuhr. Als infolge der bekannten geschichtlichen Vorgänge diese Länder, das eine im äußersten Osten, das andere im äußersten Westen Deutschlands, an die brandenburgische Hauptlinie der Hohenzollern fielen, wurde hier wie dort, im schroffen Gegensatze zu den damals nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa beherrschenden Grundsätzen den Katholiken vollkommene Gleichberechtigung mit den Evangelischen zuerkannt und durch Staatsverträge feierlich verbürgt, in Ostpreußen durch Staatsvertrag mit Polen, in dessen Lehensverband das alte Ordensland noch stand, in Jülich-Kleve-Mark durch Staatsvertrag mit Pfalz-Neuburg, dem der andere Teil der Jülich-Kleveschen Erbschaft zugefallen war. Dies war der zweite, ungleich wichtigere Schritt auf dem Wege der Religionsfreiheit in Preußen. Die alten Stammlande freilich blieben rechtlich noch hiervon unberührt; aber tatsächlich mußte doch die für das östliche und für das westliche Vorwerk des Kurstaates Brandenburg geschaffene Gleichheit der beiden großen christlichen Kirchen auch von Einfluß sein auf die Handhabung der Grundsätze des exklusiven Konfessionsstaates, die Brandenburg beherrschten, und dies war auch sowohl unter der Herrschaft des Großen Kurfürsten als Friedrich I. und Friedrich Wilhelm I. trotz des strengen Festhaltens dieser Fürsten an ihrem evangelischen Glauben der Fall.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 971. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/534&oldid=- (Version vom 21.8.2021)