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Die evangelische Kirche und Theologie
Von Prof. D. Dr. Hunzinger, Hauptpastor zu St. Michaelis in Hamburg


I. Die Krisis der evangelischen Landeskirchen.

Die evangelischen Landeskirchen befinden sich seit mehr als einem halben Jahrhundert in einer Krisis, welche in der Gegenwart ihren Höhepunkt erreicht hat. Diese Krisis hat eine mehr äußere und eine innere Seite. Die äußere besteht in der fortschreitenden Abnahme der Kirchlichkeit, die innere in der Erweichung des Bekenntnisstandes.

Unkirchlichkeit das eigentliche Problem.

Den Gründen für die Entstehung und das stetige Wachstum der Unkirchlichkeit unter der evangelischen Bevölkerung des Deutschen Reiches nachzuforschen, ist eine der wichtigsten Aufgaben des Kirchenhistorikers der Gegenwart. Sie bildet das eigentliche Problem für die gesamte Kirchenleitung, von den Kirchenregierungen an bis zu den Gemeindehelfern herab. Ja, auch über die offizielle Kirche hinaus ist sie längst für weitsichtige Freunde unseres Volkes und Förderer seines geistigen Lebens ein Gegenstand ernstester Sorge geworden. Das Suchen nach Mitteln gegen die unkirchliche Haltung ganzer Schichten unseres Kirchenvolkes kennzeichnet seit geraumer Zeit die gesamte Arbeit der Kirche. Es wird dabei immer deutlicher, daß wir es nicht, wie man zeitwellig geglaubt hat, mit einer verhältnismäßig einfachen und vorübergehenden, sondern mit einer fest eingewurzelten, verwickelten und umfassenden Kulturerscheinung zu tun haben. Und es läßt sich nicht verhehlen, daß dieser Zustand für den Fortbestand unseres bisherigen evangelischen Kirchenwesens gefährlich werden muß, wenn keine Besserung eintritt.

Die Zukunft unserer Kirche wird davon abhängen, ob wir es hier mit einem unabänderlichen Zustand zu tun haben.

Zweierlei ist zunächst über die moderne Unkirchlichkeit zu sagen. Einmal, daß sie keineswegs bloß einzelne Schichten und Klassen der Bevölkerung ergriffen hat, sondern daß sie einen allgemeinen Charakter angenommen hat. Auch die ländlichen Gemeinden werden immer mehr von ihr ergriffen. Die kirchlichen Gegenden und Gemeinden, die gewiß noch vorhanden sind, können nur als Ausnahmen von der Regel gelten. Sodann muß gesagt werden, daß die moderne Unkirchlichkeit durchaus keine

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 976. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/539&oldid=- (Version vom 20.8.2021)