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innerhalb der unierten Landeskirche wacht. In einigen nichtpreußischen Landeskirchen aber erstarkte unter der Führung bedeutender und zielbewußter Führer das konfessionelle Bewußtsein derartig, daß die Union nicht einmal auf die neugewonnenen Provinzen ausgedehnt werden konnte. Damals führte die freilich unbegründete Furcht für die kirchliche Selbständigkeit der annektierten Länder zur Gründung der Allgemeinen Evangelisch-lutherischen Konferenz und ihres Organs, der Allg. Ev.-Luth. (Luthardtschen) Kirchenzeitung. Sie bildete bis zum Ende des Jahrhunderts den Sammelpunkt der antiunionistischen Bestrebungen des kirchlichen Luthertums. Ihr anfänglicher scharfer Gegensatz gegen die Union milderte sich jedoch, nachdem der konföderative Charakter derselben immer deutlicher wurde, mehr und mehr ab. In demselben Maße sank freilich auch die Bedeutung und die Anziehungskraft der Konferenz. Die jetzige „Allgemeine Evangelisch-Lutherische Konferenz“, seit Anfang des Jahrhunderts neu organisiert, hat auch Vertreter des außerdeutschen, namentlich des nordischen Luthertums, sowie auch die Lutheraner innerhalb der Union in sich aufgenommen. Ihr Programm ist nicht mehr kirchenpolitischer Art, sondern erstrebt eine freie Zusammenfassung des Luthertums überhaupt. Auf ihren imposanten Tagungen, von denen zwei in Schweden gehalten sind, werden bedeutsame Fragen des kirchlichen Lebens unserer Zeit unter die Beleuchtung des lutherischen Bekenntnisses gestellt. Ein universalistischer Zug ging bisher durch ihre Verhandlungen. Dagegen hat sich das immer mehr zusammenschrumpfende exklusive Luthertum von der Konferenz getrennt und im „Lutherischen Bunde“ eine Sonderorganisation zur weiteren Bekämpfung der Union als des „Grundübels“ aller kirchlichen Schäden unserer Zeit gegründet.

So hat sich in hundert Jahren heftigen konfessionellen Kampfes gegen den „Unionsgedanken“ der Gegensatz gegen denselben ganz erheblich abgeschwächt. Die Gründe dafür sind verschiedener Art. Einer ist schon erwähnt. Die Entwicklung der preußischen Landeskirche hat bewiesen, daß die Union keinen absorptiven, sondern konföderativen Charakter trägt und tragen wird.

Der neue Einigungsgedanke in der preußischen Kirchenpolitik.

Die preußische Kirchenpolitik bedeutet nicht eine „dauernde Gefahr“ für die Selbständigkeit der lutherischen Kirchen und ihren Bekenntnisstand. Es bestehen in Preußen keinerlei Tendenzen zu mehr oder weniger unfreiwilliger Unionisierung der evangelischen Landeskirchen oder gar zu einer planmäßigen Durchführung der hochpolitischen Konstruktion der „Nationalkirche“. Man hat auf konfessioneller Seite zweifellos sehr oft Gespenster gesehen, und was dabei in erster Linie mitwirkte, waren politische Animositäten. Gewiß – und ich füge hinzu: Gott sei Dank – lebt in der preußischen Kirchenpolitik ein Einigungsgedanke. Aber er bezweckt keineswegs irgendwelche Beeinträchtigung vorhandener kirchlicher Rechtsbeständigkeit. Auch drückt er sich nicht in irgend welchen kirchenpolitischen Machinationen aus. Er arbeitet vielmehr in loyalster und offenster Weise an der Herbeiführung eines freiwilligen, das Sonderbekenntnis nicht berührenden, in die Selbständigkeit der Landeskirchen nicht eingreifenden, engeren Zusammenschlusses der evangelischen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 980. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/543&oldid=- (Version vom 20.8.2021)