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nach neuen Formen für die alte Wahrheit. Daß dabei die neuen wissenschaftlichen Werte oft stärker empfunden wurden als der bleibende religiöse Gehalt der Überlieferung, läßt sich freilich nicht leugnen. Während die Orthodoxie bis heute die Furcht vor der Wissenschaft und das Mißtrauen gegen sie niemals los geworden ist, überspannte jener Liberalismus auf der anderen Seite vielfach den Begriff der Wissenschaft und wähnte sich im Besitze einer Voraussetzungslosigkeit, die das allergrößte Mißtrauen verdiente. Heutzutage beginnt man sich energisch auf die Relativität und Bedingtheit aller wissenschaftlichen Erkenntnis zu besinnen – auch eine heilsame Frucht des erneuten Kantstudiums.

Wirkungen der wissenschaftlichen Kritik.

Es ist hier noch nicht der Ort die theologische Entwicklung der neuesten Zeit zu beschreiben. Es soll nur verständlich gemacht werden, wie es zu jener Spannung der „kirchlichen“ „positiven“ und der „unkirchlichen“, „negativen“, „modernen“, „liberalen“ Theologie gekommen ist, welche heute zu einer den Fortbestand der Volkskirche gefährdenden innerkirchlichen Krisis geführt hat. Der Geist der modernen Wissenschaft drang mit allen seinen Problemstellungen in die Theologie ein und machte auch mehr und mehr alle scheinbar feststehenden Erkenntnisse problematisch. Nirgends machte er Halt, keine Grenzen erkannte er an. Von zwei Seiten her vollzog sich eine fortschreitende Reduktion der kirchlichen Lehre. Vor allem von seiten der neuen entwicklungstheoretischen und kritischen Geschichtsforschung. Die „historische Kritik“ warf sich auf alle Teile der christlichen und kirchlichen Überlieferung und gestaltete die traditionelleren Anschauungen vollkommen um, welche in der kirchlichen Gedankenwelt als ein unveräußerlicher, geheiligter Besitz galt, mit dem alles „stand und fiel“. Die textliche, literarische, kanongeschichtliche, profan- und religionshistorische Kritik erzeugte ein in beständiger Wandlung begriffenes, stets unvollendetes, aber völlig verändertes Bild der alt- und neutestamentlichen Geschichte, der Entstehung des Urchristentums und der Kirche. Die kirchen- und vor allem dogmengeschichtliche Forschung gewann ebenfalls ganz neue Gesichtspunkte und Methoden für ihren Gegenstand und infolgedessen ganz neue Auffassungen vor allem des Ursprungs und der Weiterentwicklung des kirchlichen Dogmas, der Bekenntnisse, der Reformation und Theologie. Diese historisch-kritische Umgestaltung des kirchlichen Überlieferungsbildes vollzog sich keineswegs geradlinig und in regelmäßigem Fortschritt, sondern durch starke Kurven und oft durch Extreme hindurch. Immer wieder wurde dabei erlebt, daß die Grenzüberschreitungen der Kritik ganz von selbst auf ihr richtiges Maß reduziert werden.

Keine fertigen Resultate, aber negative Ergebnisse.

Auch gegenwärtig besteht keineswegs, ja nicht einmal in den Hauptfragen, ein erhebliches Maß von Einigkeit unter den Forschern. Das bisherige Ergebnis der kritischen Bearbeitung der historischen Grundlagen des Christentums ist jedenfalls in fertigen und „feststehenden“ Resultaten nicht zu fassen. Das Ergebnis ist in vielen Punkten noch negativer Art, soll darum in negativer Form ausgesprochen werden: Die Verbalinspiration

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 986. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/549&oldid=- (Version vom 20.8.2021)