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der moderne Kulturgedanke mit seiner Diesseitigkeitsstimmung, seinem Immanenz- und Relativitätsprinzip in stärkerer Weise als bisher jede liberale Auffassung wesentliche Inhalte des Christentums absorbiert und die Kirche aus der ihr durch die Reformation gewiesenen Bahn herauszudrängen bestrebt ist. Auch solche kirchliche Theologen, welche der wissenschaftlichen Arbeit in der Theologie den weitesten Spielraum gewähren wollen, empfinden vieles an diesem „Neuprotestantismus“ als „unkirchlich“ und sehen in ihm eine schwere Gefahr für die evangelische Kirche. Und in der Tat: hier handelt es sich vielfach nicht mehr um verschiedene Auffassungen der reformatorischen Bekenntnisse, sondern um ihre grundsätzliche Ablehnung als auf mittelalterlichen Fragestellungen beruhende Zeugnisse einer überwundenen Zeit.

Darum ist es verständlich, daß die kirchliche Theologie der Gegenwart die Überwindung des Neuprotestantismus als ihre Aufgabe betrachtet. Den verkehrtesten Weg zu diesem Ziel würde sie freilich einschlagen, wollte sie die in ihm wirksame wissenschaftliche Kraft verleugnen und ihrerseits von neuem die reaktionäre Bahn beschreiten. Es fehlt unter den kirchlichen Theologen nicht an solchen, die sich zu solchem Werke anschicken. Noch törichter freilich ist das Beginnen derer, die mit kirchenpolitischen Machtmitteln, etwa durch Beschränkung der theologischen Lehrfreiheit oder gar durch disziplinarische Maßregeln dem Vordringen dieser Theologie Halt gebieten zu können und zu dürfen glauben. Sofern ihnen das nicht ihr eigenes Gewissen verbietet, sollten sie wenigstens von der Geschichte lernen, wohin solche Wege führen und wohin nicht.

Es gibt nur einen ethisch-wissenschaftlich und evangelisch richtigen Weg zur Überwindung der der Kirche von der fortgeschrittensten Theologie drohenden Gefahr. Diesen, daß die kirchliche Theologie selbst den Beweis des Geistes und der Kraft erbringt. Das wird sie nur können, wenn sie den wissenschaftlichen Geist, der in jener Bewegung waltet, rückhaltlos anerkennt und sich ihm in voller Ehrlichkeit und mit ganzem Herzen hingibt. Das andere Erfordernis aber ist, daß sie die religiöse und sittliche Lebendigkeit und Energie aufbringt, um in der Spannung zwischen dem alten Glauben und dem neuen Wissen die reformatorische Position in der Ursprünglichkeit eigenen Erlebens festzuhalten und theologisch zu behaupten.

Die Arbeit der modernen kirchlichen Theologie.

An dieser Aufgabe arbeitet gegenwärtig eine große Schar jüngerer moderner kirchlich gerichteter Theologen mit frischem Mute und bisher ungebrochener Kraft, und dieser Arbeit sollte die Kirche Vertrauen schenken, mehr Vertrauen schenken, als sie tat. Diese Theologen kommen aus verschiedenen Lagern der „Positiven“ älterer Observanz, vor allem auch von der Erlanger Schule, einige von der Ritschlschen Rechten. Einer ihrer ersten und wirksamsten Repräsentanten ist Reinhold Seeberg. Die Ausgangspunkte, Wege und Methoden sind bei den einzelnen sehr verschieden, und die anfängliche Gefahr einseitiger Schulbildungen hat sich sehr bald verzogen. Fast alle suchen sie neue und selbständige Wege und marschieren getrennt, oft sehr getrennt. Aber der Grundcharakter ihrer Theologie ist darin ein gemeinsamer, daß sie alle die Synthese suchen, die die evangelische Kirche braucht, um sich in dem Geistesleben

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1001. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/564&oldid=- (Version vom 20.8.2021)