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anzuwendenden Methoden, wohl aber hinsichtlich ihrer Tragweite besteht. Die Neuprotestanten überschätzen die Wirkungen des Historismus, überschreiten zuweilen die Grenzen der historischen Begriffsbildung, ähnlich so wie vorher die Naturalisten (mit denen sie übrigens nicht verglichen werden sollen) die Grenzen der naturwissenschaftlichen. Was sich der Methode, die doch nur ein Auswahlverfahren darstellt, nicht fügen will, wird vielfach als ungeschichtlich verdächtigt. Als ob die Grenzen des historisch Feststellbaren auch die Grenzen der Wirklichkeit wären. Die Historie findet natürlich nur einen Jesus, der immer mehr zusammenschrumpft. Wird der Glaube auf diesen beschränkt, so muß er freilich auch zusammenschrumpfen. Aber darauf kann man doch nur kommen, wenn man die Gebiete des Wissens und Glaubens vermischt wie einst, wenn auch mit dem entgegengesetzten Resultat, die orthodoxe Theologie. Der Neuprotestantismus mutet in dieser Beziehung zuweilen als die umgekehrte Orthodoxie an. Die modernkirchliche Theologie lernt andere Wege gehen. Sie kommt oft zu denselben historisch-kritischen Resultaten wie jener. Aber sie zieht andere Schlüsse daraus. Sie unterscheidet, was sie im Namen der Wissenschaft und was im Namen des Glaubens über Jesus auszusagen vermag. Sie verhehlt sich keinen Augenblick, daß dieses weit über jenes hinausgeht, aber auch hinausgehen muß und kann. Darum denkt sie bei voller Aufgeschlossenheit gegenüber der Wissenschaft nicht daran, dem Historismus die Absolutheit des Christentums, die supranaturale Offenbarung, die Heilsgeschichte und den Christus des Glaubens zu opfern.

Ich glaube, daß allein durch die konsequente Verfolgung dieser Aufgabe allmählich ein Boden zu gewinnen ist, auf dem ein neues Verhältnis von Wissenschaft und Kirche begründet werden kann – in einer Theologie, die sich mit der Wissenschaft und mit der sich die Kirche zu verständigen vermag. Gewiß wird ein solcher Gleichgewichtszustand nur annähernd und nicht ein für allemal zu erreichen sein. Es kann auch noch nicht davon die Rede sein, daß er schon bestände. Aber der unbefangen Prüfende wird doch sagen dürfen, daß eine zukunftskräftige und produktive Theologie in der Gegenwart sich diesem Ziele nähert.

Faßt man diese im Entstehen begriffene neue Literatur ins Auge, so gewinnt das Urteil innere Berechtigung, daß die Entfremdung zwischen Kirche und Theologie, die sich im 19. Jahrhundert immer mehr vergrößerte und schließlich durch den Neuprotestantismus und Historismus ein bisher in der gesamten Kirchengeschichte kaum dagewesenes Maß erreichte, ihren Höhepunkt bereits überschritten hat.

Der Historismus hat auf die kirchliche Theologie den denkbar stärksten Angriff gemacht. Er hatte ohne Zweifel die Tendenz in sich, den kirchlichen Charakter der Theologie überhaupt zu neutralisieren. Das ist ihm nicht gelungen und wird ihm nicht gelingen. Zwar hat er den ganzen bisherigen theologischen Besitz der Kirche in Frage gestellt und zu einer gründlichen Revision der Überlieferung genötigt. Ja mehr als das! Er vermochte den durch die kirchliche Restauration wiederhergestellten Bekenntnischarakter der evangelischen Kirche zu neutralisieren. Eine völlig neue Situation ist dadurch geschaffen. Aber schon jetzt wird deutlich erkennbar, daß das Ergebnis der theologischen Entwicklung eine neue Synthese von Wissenschaftlichkeit und Kirchlichkeit sein wird, keine definitive Scheidung beider.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1003. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/566&oldid=- (Version vom 20.8.2021)