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2.

Ringen des Neuen mit dem Alten.

Der letzte Teil unserer Untersuchung hat uns gezeigt, daß die Krisis, in der sich die evangelische Kirche seit längerer Zeit befindet, keineswegs, wie viele meinen, rein negativer und destruktiver Art ist, sondern auch neue und fruchtbare Momente in sich birgt. Sie befindet sich in einem Übergangsstadium. Altes stirbt ab, aber zugleich will sich ein Neues gestalten. Das Alte und das Neue ringen noch miteinander. Das macht die Lage unserer Kirche so schwierig und undurchsichtig. Die altprotestantische Konfessionskirche, welche durch die Kirchenrestauration in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch einmal wiederhergestellt werden sollte, erliegt immer mehr den Einflüssen der modernen Lebens- und Geistesentwicklung. Andererseits bereiten sich mitten aus dieser Krisis heraus zukunftskräftige Ansätze zu einer neuen Kirchenform vor, eine Erweiterung, ja Vertiefung des reformatorischen Kirchengedankens. Den organischen Übergang von einem zum anderen zu finden, das ist die Hauptaufgabe der Gegenwart und Zukunft. Niemand hat sie klarer erfaßt als der Kaiser. Das spricht sich immer wieder in seinen religiösen Kundgebungen aus. Es ist eine wichtige kirchengeschichtliche Erscheinung, daß der Oberbischof des größten evangelischen Kirchenkörpers Deutschlands das bezeichnete Übergangsstadium mit vollem Bewußtsein und tiefem Verständnis durchlebt und die Notwendigkeit seiner „Weiterbildung“ empfiehlt und ausspricht.

Niemand kann die endgültige Gestalt der Zukunftskirche voraussagen. Aber die Richtung läßt sich jetzt schon bestimmen, in der die Weiterbildung sich vollziehen wird.

Richtlinien für die Zukunft.

Die Tage der konfessionellen Lehrkirche im alten Sinne sind gezählt. Vergeblich arbeitet eine rechts-radikale Partei an ihrer Wiederherstellung. Lebensformen, die geistesgeschichtlich überwunden sind, lassen sich nicht einfach wiederherstellen. Und so steht es mit jener Kirchenform. Das Dogmatische, die religiöse Theorie, das Lehrhafte des Glaubens, besitzt heute nicht mehr die Tragkraft, wie einst zur Zeit des Intellektualismus. Es kann nicht für alle Zeiten der ausschließliche Träger der Kirche sein, auch dann nicht, wenn das religiöse Erkenntnisleben im 16. oder 17. Jahrhundert stehen geblieben wäre. Aber erst recht nicht, wenn sich, wie gezeigt wurde, gerade auf diesem Gebiete eine derartige Umwandlung vollzogen hat, daß auch der konfessionellste Theologe sich nur mit den allerstärksten Einschränkungen auf die Bekenntnisse verpflichten kann. Die Bekenntnisverpflichtung hat heute auch für den denkbar konservativsten Geistlichen einen ganz anderen Sinn als im 17. Jahrhundert. Es ist für uns alle ganz unmöglich geworden, uns zu den dogmatischen Theorien, Spekulationen, Formeln und Deduktionen, der Bibelauslegung, den Geschichtsauffassungen und dem Weltbild jener Zeit zu bekennen. Wer das Gewicht dieser Tatsache verkennt, dem fehlt jeder Sinn nicht nur für das Wesen der Geschichte, sondern auch des Protestantismus. Der Protestantismus fordert im Unterschiede von dem Katholizismus, der nur unveränderliche

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1015. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/578&oldid=- (Version vom 20.8.2021)