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Arbeiter mit andersgläubigen in denselben Unternehmungen zusammen tätig sind, werden sie auch gemeinsame Organisationen mit diesen eingehen. Die Möglichkeit, sie für die Dauer ausschließlich unter sich zu organisieren, dürfte so unwiederbringlich dahin sein wie die geistlichen und konfessionellen Staaten des alten Reiches; und selbst diesen ist es bekanntermaßen schließlich nicht mehr gelungen, die Scheidung reinlich durchzuführen. Der religiöse Unterricht in Schule und Kirche wird solide Kenntnisse der christlichen Lehre und warme Begeisterung für die religiösen Ideale vermitteln müssen. Dann wird die Widerstands- und Werbekraft des katholischen Gedankens sich stark genug erweisen gegen die drohenden Gefahren; es wäre traurig, wenn er nur durch Abschließung, die schon einmal so kläglich Fiasko gemacht hat, gegen fremde Einflüsse verteidigt werden könnte. Nur durch Festigung von innen heraus, die freilich viel mühsamer ist als Absperrung, wird es gelingen, die starke Konkurrenz anderer Weltanschauungen auszuhalten. Das in Übereinstimmung mit Äußerungen erfahrener Soziologen stehende Wort von F. X. Kraus, der auch über die einschlägigen Fragen nachgedacht und dank seiner Kenntnis verschiedener Länder Gelegenheit zur Vergleichung hatte, ist nicht von der Hand zu weisen: „Die sozialen Probleme werden, insoweit sie materieller Art sind, insoweit sie Magenfragen sind, gar nicht von den Dogmen berührt; das Hereintragen konfessioneller Gesichtspunkte in alle diese Fragen, welche durch den Übergang von der Hand- zur Maschinenarbeit, durch die Ausbildung unserer Industrie und die Agglomeration großer Bevölkerungsmassen auf einen Punkt hervorgetreten sind, ist vollkommen unberechtigt und kann nur Unsegen stiften. Die Predigt der Liebe und der Selbstlosigkeit ist das Einzige, was die Religion hier Erkleckliches und Großes leisten kann; aber es ist etwas so Großes, daß man wohl sagen darf, die Lösung der vorliegenden volkwirtschaftlichen Probleme wird durch den religiösen Einfluß des Christentums unendlich erleichtert werden und wird ohne diesen Einfluß sehr schwer, wahrscheinlich unmöglich sein.“ Die Lage ist für die Kirche äußerst schwierig; denn ein schroffes Vorgehen gegen die interkonfessionellen Gewerkschaften könnte einen dem beabsichtigten entgegengesetzten Erfolg haben und ihre Mitglieder erst recht dahin treiben, von wo man sie fernhalten wollte. Die Arbeiter, der in ihrer Masse liegenden Macht sich bewußt, sind nicht so geduldig und nicht so an autoritative Behandlung gewöhnt, wie etwa die Professoren, deren vergleichsweise geringe Zahl zusammen mit ihrer mangelnden Einigkeit bisher an keine gemeinsame Vertretung ihrer Standesinteressen denken ließ. Der Einfluß der Kirche auf die katholischen Arbeiter könnte für die Dauer um so mehr gefährdet werden, wenn sie ihnen das natürliche, vom Staat ihnen gelassene Assoziationsrecht und die Verteidigung ihrer Ansprüche zu beschränken suchte. Es ist kein schlechtes Zeichen für die Gewerkschaften und scheint für eine den verschiedenen Bedürfnissen Rechnung tragende Mittelstellung zu sprechen, daß eine auch sonst sehr intransigente „katholische“ Presse und die extremen Kirchenfeinde ihnen gleichmäßig entgegen sind.

Katholische Studentenkorporationen.

Vielleicht keine katholische Organisation hat häufigere und erbittertere Anfechtungen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1040. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/603&oldid=- (Version vom 13.2.2021)