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Nachbarlandes ebenso wie die italienische sich protestantischen Einflüssen, namentlich der Kantschen Philosophie, in weit stärkerem Maße zugänglich gezeigt, als die durch den beständigen Umgang mit der andersgläubigen Rivalin kritischer und selbständiger gewordene deutsche. Die römischen Kongregationen des Index und der Inquisition wurden in den letzten zwei Dezennien ungleich mehr von romanischen als von deutschen Theologen in Arbeit gesetzt. Auch der sog. Modernismus machte sich bei letzteren weit weniger als bei ersteren geltend. Es war darum auch in dieser Hinsicht wohlbegründet, wenn in Deutschland staatliche und kirchliche Faktoren tätig waren, um wenigstens den an staatlichen Hochschulen wirkenden Theologen von der Verpflichtung zum Anti-Modernisteneid, dessen Ablegung ihnen von den Kollegen weltlicher Fakultäten als capitis deminutio gedeutet worden wäre, in Rom Dispense zu erwirken. Zu der oft bewährten Einsicht der deutschen Regierungen, die ihr Urteil mehr aus den realen Verhältnissen als aus theoretischen Konstruktionen schöpfen, und ihrem verständnisvollen Zusammenwirken mit dem Episkopate darf man denn auch das Zutrauen hegen, daß es gelingen wird, die immer noch nachzitternde Aufregung zu beruhigen und eine weitere Schädigung der katholischen Wissenschaft wie eine Mehrung der konfessionellen Mißverständnisse zu verhindern.

Katholische Philosophen und Historiker.

Neben den theologischen Fakultäten zeigt sich die Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der Minorität in der Anstellung von Vertretern der katholischen Weltanschauung in Philosophie und Geschichte an den philosophischen Fakultäten jener Hochschulen, an denen katholische Theologen ihre Studien machen. Zeitweilig heftig angefochten, werden solche „konfessionelle“ Professuren, die bei der nun einmal bestehenden religiösen Spaltung unentbehrlich sind, sich um so sicherer behaupten, je tüchtiger ihre Inhaber in dem von ihnen zu vertretenden Fache sind. Denn die oft gehörte Behauptung, daß ein Katholik, möge er noch so bedeutende Leistungen aufzuweisen haben, bei den Anhängern der liberalen Weltanschauung niemals Anerkennung finde, ist in ihrer Allgemeinheit durch zahlreiche Tatsachen, durch die rückhaltlose Schätzung katholischer Historiker und Philosophen seitens ihrer andersgläubigen Fach- und Fakultätsgenossen, immer unhaltbarer geworden. Überhaupt ist es eine in hohem Grade erfreuliche Erscheinung, daß die Wissenschaft in zahlreichen Fällen die Brücke wie über nationale, so über konfessionelle und Weltanschauungsgegensätze bildet.

Wissenschaft und konfessionelle Verständigung.

Die Theologie macht hiervon keine Ausnahme. Vielleicht niemals seit der Aufklärungsära haben so viele freundschaftliche Beziehungen zwischen Theologen der verschiedenen Konfessionen bestanden wie heute, ohne daß darum, wie Mißgünstige gerne glauben machen möchten, dem Standpunkte auch nur das Geringste vergeben würde, vergeben zu werden brauchte. Eine Vereinigung der christlichen Konfessionen könnte heute nur ein Ideologe erhoffen. Es ist nicht einmal sicher, ob sie unbedingt wünschenswert wäre. Soviele Übel die konfessionelle Spaltung auch im Gefolge hatte, ein Gutes hat sie doch auch: sie hat uns vor der Stagnation bewahrt, der die im Glauben

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1049. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/612&oldid=- (Version vom 21.8.2021)