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zur Universität. Viele von ihnen, denen der höchste und natürlichste Wunsch ihres Lebens versagt blieb, können hier entsprechend sich zum Weg durch das Leben vorbereiten und ihre Kenntnisse zum Heile des Geschlechts vertiefen; einen tiefer greifenden Einfluß auf die Wissenschaft selbst zu üben, werden nur wenige vermögen, wenn die Natur nicht bereit ist, das Wesen der Frau selbst umzugestalten.

Überfüllung der gelehrten Stände.

Besorgniserregend wirkt der Andrang aller Kreise zum Studium selbst, das Anwachsen der Zahl der Studierenden von rund 28 000 im Jahre 1890–1891 auf 59 000 im Jahre 1911–1912; denn es ist unmöglich, daß diese Scharen im öffentlichen oder privaten Leben Aufnahme finden, und selbst die unendlich verzweigten Aufgaben der Gegenwart sind nicht imstande, diese Zahl der zuströmenden Jünglinge zu beschäftigen und ihnen die Stellung, der sie mit frohem Hoffen zueilen, im Leben zu vermitteln. Die zunehmende Wohlhabenheit unseres Volkes wird häufig als der Grund für diesen von Jahr zu Jahr anwachsenden Strom angegeben. Tatsächlich ist das nur einer und nicht einmal der bedeutendste der Gründe. Die Familien, aus denen die Mehrzahl unserer Studierenden hervorgeht, sind so wohlhabend im allgemeinen nicht, daß sie die lange, dem Staatsexamen folgende, anstellungslose Zeit ihrer Angehörigen ohne schwere Erschütterung ertragen können. Vielmehr sprechen andere und wichtigere Umstände mit. Verschiedene Stände, für die, wissenschaftlich betrachtet, das Abiturientenexamen lange Zeit nicht notwendig erschien, erstreben aus rein äußerlichem Standesinteresse die Vorbildung durch das Abiturientenexamen. Ein Teil der Zivilbehörden verlangt für die Aufnahme in den Staatsdienst das Primanerzeugnis und veranlaßt durch diese zu weitgehende Forderung manch jungen Mann indirekt, wenn er das Primanerzeugnis erst besitzt, dann noch die weiteren zwei Jahre auf der Schulbank zuzubringen, um die Reife für die Universität selbst zu erwerben. Vor allem aber hat, nach der Ansicht vieler, sich ständig mehrender Beobachter, der Andrang zur Universität ihre für die Betroffenen unheilvolle Ursache in der ungenügenden Auslese, an den milden Anforderungen, die von selten vieler Schulmänner bei der Abschlußprüfung erhoben werden und nach Ansicht nicht weniger akademischer Lehrer damit der Universität wissenschaftlich nicht vollwertige Elemente zuführen, die nachher bei der Ablegung der Staatsexamina scheitern[1]. Die Tatsache, daß 1911 bei der Referendarprüfung 30%, bei der Prüfung zum Gerichtsassessor 21,5% den Anforderungen nicht genügt haben, daß die Zahl der bei der Oberlehrerprüfung Nichtbestandenen mehr als ein Drittel der Bewerber betrug, läßt eine andere Deutung wohl nur auf künstlichem Wege zu.

„Vielleicht darf ich den Wunsch und die Mahnung aussprechen – sagt mit Bezug auf die Überfüllung unserer Hochschulen und den ungesunden Andrang zum Gelehrtenberufe Theobald Ziegler in seinen Vorträgen über Universitäten und Universitätsstudium –, daß beim Abiturientenexamen mit mehr Strenge verfahren werde, als dies gewöhnlich der Fall ist. Das ‚Landgraf werde hart‘ ist bei Prüfungen oft die Mahnung zur Barmherzigkeit an der richtigen Stelle.“


  1. Die Gründe entsprechen den Ausführungen bei den Etatsberatungen des Herrenhauses, am 29. April 1913.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1060. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/623&oldid=- (Version vom 9.3.2019)