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und nicht zu einer festen Regelung. Eifriger tätig waren die Unzufriedenen. Der Gedanke, daß das Weib eigentlich nur für den Mann erzogen werden solle, sei es um ihn zu unterhalten oder um seine Arbeit zu fördern, erregte bei allen denen Anstoß, die dem Geschlecht eine gleichberechtigte Stellung, wo nicht im Berufsleben, so doch im Geistesleben zu erobern gedachten. Nicht um dem Manne, der es erwählen würde, zu dienen, sondern um das eigne Dasein sich inhaltvoll zu schaffen, mit selbständigem Anteil an den Aufgaben, Kämpfen und Fortschritten einer reichbewegten Zeit, dazu sollte das Mädchen erzogen werden; ein Unterricht aber, der zu solcher Erziehung hülfe, schien nur von Frauen erteilt werden zu können. So traf das ideale Verlangen nach erhöhter weiblicher Bildung mit dem praktischen zusammen, daß den Frauen mehr Anteil an dem wissenschaftlichen Unterricht der oberen Klassen gegeben werden müsse. Und dies war wieder nur ein besonderer Fall des allgemeinen Strebens nach Eröffnung neuer und erweiterter Berufswege und Erwerbsmöglichkeiten für die alleinstehende gebildete Frau.

Die Frauenfrage.

Wie es zu gehen pflegt: im Kampfe der Interessen vermag der harte, aus einer Not erwachsene praktische Zweck eher sich durchzusetzen als das reinste und edelste, nur aus geistigem Stoffe genährte Ideal. Die Bemühungen um bessere Geistesbildung für die weibliche Jugend fanden stärkste Hilfe in der Entwicklung des wirtschaftlichen Lebens seit 1871, den Verhältnissen des Arbeitsmarktes, in dem Anwachsen der Zahl unverheirateter Frauen, die darauf angewiesen waren, sich den Lebensunterhalt selbst zu verdienen.

Anfänge mit Real- und Gymnasialkursen.

Erwägungen der angedeuteten Art kamen, soweit sie überhaupt die Schule betrafen, in einer Petition zum Ausdruck, die im Jahre 1887 von Berliner Frauen dem Kultusministerium eingereicht wurde. Unmittelbar hatte sie keinen Erfolg. Durch die Begleitschrift aber, in der Helene Lange die gestellten Anträge begründet hatte, wurden die neuen Gedanken in die Öffentlichkeit getragen und wirkten anregend und erregend weiter. Auch begnügte sich die Verfasserin nicht, ihre Forderungen theoretisch zu vertreten, sondern ging dazu über, sie auf eigne Hand und mit privaten Mitteln zu verwirklichen. Im Jahre 1889 wurden in Berlin Realkurse für Frauen eröffnet; wer diese durchgemacht hatte, mochte in der Schweiz das Zeugnis der Reife erwerben, und dann entweder dort oder an einer der deutschen Universitäten, die damals schon Frauen als außerordentliche Hörerinnen zuließen, studieren. Aber die Freunde und Freundinnen des Fortschritts ruhten nicht. Petitionen wurden zuerst an alle deutschen Unterrichtsministerien, dann an den Reichstag und die einzelnen Landtage geschickt: es möge grundsätzlich den Frauen gestattet werden, das Maturitätsexamen abzulegen, auf Universitäten und anderen Hochschulen zu studieren und später, nach Bestehen der vorgeschriebenen Prüfungen, in den ärztlichen Beruf und den wissenschaftlichen Lehrberuf einzutreten. Der Reichstag beschäftigte sich zum erstenmal im Frühjahr 1891 mit dieser Frage, und ging über die Petitionen zur Tagesordnung über. Etwas besseren Erfolg hatten sie in den Landtagen der Einzelstaaten, von denen sich besonders der badische freundlich zu der Bewegung

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1088. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/651&oldid=- (Version vom 31.7.2018)