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Bedenken gegen die innere Tüchtigkeit.

Freilich der wertvollste Teil, das Innenleben der Schule wie der Menschen, läßt sich nicht ausstellen, auch nicht, ob es gesund und kräftig sei, durch Prüfungen und Revisionen feststellen. Darüber entscheidet spät erst die Bewährung im äußeren Leben, das von Natur ein Wettkampf ist. Das war ja der Sinn der Gleichberechtigung, der Bestärkung verschiedener Schulen in ihrer Eigenart, daß jede zeigen sollte, was sie vermöchte, um ihre Zöglinge für die Aufgaben des Berufs tüchtig zu machen. Unmerklich hat sich dieses Verhältnis in der Richtung zu verschieben begonnen, daß die Anstalten wetteifern, welche ihre Zöglinge am sichersten an das vorläufige Ziel des Eintritts in die Berufsstudien bringt. Diese Verschiebung hängt mit einem Wandel zusammen, der sich in der Organisation unseres öffentlichen Lebens immer weiter vollzieht; der Grund liegt also außerhalb des Machtbereichs der Schule. Was sie tun kann, um den Staat und die Gesellschaft vor Schaden bewahren zu helfen, ist, daß sie es mit der Gewährung jenes Zutritts, d. h. mit der Erteilung ihrer Zeugnisse, streng nimmt; um so strenger, je größer durch die Menge derer, die sich anbieten, die Gefahr wird, daß auch Untüchtige mit hereinkommen. Und ob in dieser Beziehung an unseren höheren Schulen alles geschehen ist, was zum Wohl der Gesamtheit nötig war, ist eine Frage, über die eben jetzt lebhaft gestritten wird. Auf der einen Seite schienen ernste Symptome darauf hinzudeuten, daß viele der Heranwachsenden den Druck dessen, was die Schule fordert, nicht mehr ertragen konnten; und so ist es zu verstehen, daß man durch fortgesetzte Verminderung der häuslichen Arbeit, durch verkürzte Unterrichtszeit, durch erleichternde Versetzungs- und Prüfungsbestimmungen zu helfen suchte. Andrerseits mehrten sich nun die Klagen, daß junge Leute, die mit dem Zeugnis der Reife die Universitäten bezogen, nicht das Maß von Arbeitskraft und Denkfähigkeit mitbrächten, dessen sie zu gründlichem, innerlich erfolgreichem Studium bedürften. Der Streit ist noch nicht geschlichtet und gehört noch nicht der Geschichte an.

„Bewegungsfreiheit“.

Ein Mittel, das nach beiden Seiten zugleich heilsame Wirkung versprach, war zuerst (1905) von Friedrich Paulsen vorgeschlagen worden: dem Unterricht in den höheren Klassen möge eine mehr akademische Gestalt gegeben werden. Man hoffte, gerade für begabte Schüler, die Last der schulmäßig auferlegten Arbeit zu vermindern und zu eigener wissenschaftlicher Vertiefung Zeit und Kräfte frei zu machen. Der Plan, anfänglich von vielen mit Freude begrüßt, hat doch in dieser Form keinen rechten Erfolg gehabt, vor allem deshalb weil, trotz ausgesprochener Warnung, sehr bald der Fehler begangen wurde, die Wahlfreiheit auch auf solche Gegenstände auszudehnen, die im Lehrplan der einzelnen Schule den Hauptbestand bildeten, wie Latein und Griechisch am Gymnasium, Mathematik und Naturwissenschaften an der Oberrealschule. Das widersprach dem Geiste des Allerhöchsten Erlasses, der ja verlangt hatte, daß immer die wichtigsten Unterrichtsfächer, nach der Eigenart der verschiedenen Anstalten, in den Vordergrund gerückt und vertieft würden. Und das doch mit vollstem Rechte. Für freie Bewegung liegt der gegebene Spielraum im Innern, in der Art wie der Unterricht erteilt, wie das Denken

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1098. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/661&oldid=- (Version vom 31.7.2018)