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haben sich an Oberrealschulen wie Realgymnasien eingebürgert und geben den Zöglingen Gelegenheit, an der Arbeit des Suchens und Untersuchens selber teilzunehmen. Der Geschichte ist die Pflicht erwachsen, zu staatsbürgerlicher Gesinnung zu erziehen. Ins Innere dringen und die Seele erfassen wollen auch Deutsch und Religion; aber je feiner ein geistiger Stoff ist und je keuscher verborgen die Kräfte liegen, die er wecken und nähren soll, desto weniger verträgt er es, in Formeln gefaßt und nach Regeln verarbeitet zu werden. Von Jahr zu Jahr wächst vor unsern Augen die Fülle des Wissenswerten, den Geist Bildenden. Unmöglich, jede neu aufblühende Wissenschaft überall in den Stundenplan aufzunehmen; immer mehr bliebe dann die Schule eine Lernschule, während sie eine „Arbeitsschule“ sein oder werden soll. In weiser Selbstbeschränkung muß eine jede versuchen, anstatt eines äußeren Vielerlei innere Vielseitigkeit zu pflegen und die Hauptgebiete, in denen gerade ihre Stärke beruht, nach immer neuen Gesichtspunkten, wie das Denken der Menschheit fortschreitet, zu durchdringen. Unendlich ist diese Forderung und ewig neu; für sie gibt es keine amtlichen Lehrpläne. Nur der lebendige Sinn freischaffender Persönlichkeit vermag das große Werk wirksam zu fördern.

Kommende Aufgaben.

Ein Unterrichtssystem kann nur dann heilsam und gut sein, wenn es einen wichtigen Platz der Aufgabe einräumt, die Auslese und das Wachstum der Besten zu fördern: das gilt wie für die Schule den Knaben und Jünglingen, so für die Verwaltung den Männern gegenüber. Die schnelle Zunahme der Zahlen, mit denen beide zu rechnen haben, an sich eine so erfreuliche Erscheinung, brachte doch die Gefahr eines Verlustes an Einzelwerten. Ein weites Gebiet der Tätigkeit ist in einheitlicher Organisation umfaßt, der Gebrauch der Methoden, der Lehrmittel wird von der Zentralstelle aus geregelt; eine gemeinsame Dienstanweisung ordnet (seit 1910) in allen preußischen Provinzen gleichmäßig das Zusammenarbeiten von Direktor und Lehrern; die Beziehungen der Schule, ja ihrer einzelnen Klassen zu den Erfordernissen der verschiedenen Berufsarten sind genau erwogen und in sorgfältiger Abstufung festgelegt. Das alles mußte wohl so geschehen, wenn ernst gemacht wurde, im Hinblick auf den Dienst der Gesamtheit die Jugend zu erziehen. Nun kommt es darauf an, im gleichmäßigen Betriebe die Mannigfaltigkeit, in der Ordnung die Freiheit, innerhalb des festen Gefüges der Einrichtungen das lebendige Wirken der Menschen wieder mehr zur Geltung zu bringen. Nicht so, wie man es wohl versucht hat, daß um individueller Wünsche willen die Ordnung durchbrochen wird; wir bedürfen ihrer, und wir bedürfen zur Erziehung des Prinzips der Autorität. Die Stelle, wo es mit dem der Freiheit vermählt werden kann, ist die verantwortliche Tätigkeit des einzelnen tüchtigen Mannes. Ohne der Staatsfürsorge Abbruch zu tun, doch die Selbstverantwortung steigern: wenn das gelingen könnte! Eine große, weitverzweigte Aufgabe; wie wichtig sie ist, das hat gerade die Entwicklung des Zeitraumes, der hier überblickt wurde, deutlich gemacht. Und darin liegt die vorwärts drängende Kraft dieser Entwicklung. Wie in der Wissenschaft die Entdeckungen den größten Wert haben, die dem Forscher neue Probleme stellen, so sind im Bereiche des Handelns diejenigen Taten und Erfolge die fruchtbarsten, aus denen neue Aufgaben erwachsen.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/663&oldid=- (Version vom 31.7.2018)