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mußte, weil die finanziellen Kräfte des preußischen Staates nicht ausreichten, auch seine Bedürfnisse zu befriedigen.

Betrachten wir nun im einzelnen die gewaltigen Fortschritte, die das Volksschulwesen im letzten Vierteljahrhundert in Preußen und in Deutschland gemacht hat. Den sozialen Zug der Entwicklung werden wir zuerst nachweisen in der Fürsorge des Staates für die Volksschule auf geistigem, gesundheitlichem, wirtschaftlichem und rechtlichem Gebiete, sodann werden wir ausführen, was in dieser Zeit für den Volksschullehrerstand zur Förderung seiner Bildung, seiner amtlichen, gesellschaftlichen und gehaltlichen Stellung geschehen ist. Daran soll sich ein Rückblick auf die Entwicklung des Mittelschulwesens und des Fortbildungsschulwesens, insoweit es eine Fortsetzung der allgemeinen Volksschulbildung darstellt, schließen.

Schulpflicht.

Die allgemeine Volksbildung beruht darauf, daß allen Kindern Gelegenheit zur Erwerbung einer solchen Bildung gegeben ist, und daß die Bevölkerung diese Gelegenheit benutzt. In letzterer Beziehung war früher die Ausübung staatlichen Zwanges unentbehrlich. Als aber Friedrich Wilhelm I. vor 200 Jahren den Schulzwang in Preußen einführte, da tat er es doch nur für die Orte, in denen Schulen vorhanden waren. Ist auch diese Beschränkung längst überwunden, so ist doch die Gelegenheit zur Beschulung gerade im letzten Vierteljahrhundert außerordentlich vermehrt und verbreitet worden. Die Zahl der Schulen und der Lehrer hat sich verdichtet im Verhältnis zum Flächenraum und zur Einwohnerzahl. Die größere Dichtigkeit bringt kürzere Schulwege mit sich, was in der Stadt sicherlich von Vorteil ist und auf dem Lande ebenfalls, wenn es sich um gar zu lange Schulwege handelt, deren Zurücklegung weder der Gesundheit, noch der Schularbeit förderlich ist. Die Zahl der Analphabeten hat sich ständig vermindert und ist im Verschwinden begriffen. Der Schulzwang muß gegenüber unvernünftigen und selbstsüchtigen Eltern aufrecht erhalten werden. Er ist auch nötig in den sprachlich gemischten Landesteilen, um die Vorherrschaft der deutschen Sprache zu sichern. 1901 und 1906/07 kam es zu schweren Auflehnungen gegen den Schulzwang in der Form der Anwendung der deutschen Sprache im Religionsunterricht in der Provinz Posen (Schulstreik). Trotz mehrerer provinzieller Schulpflichtgesetze, die unter Kaiser Wilhelm II. erlassen sind, fehlt es in Preußen noch immer an dem wünschenswerten, für die ganze Monarchie einheitlichen Rechte auf diesem Gebiet, wie auch auf dem der Schulversäumnisstrafen. Aber es verdient doch hervorgehoben zu werden, daß die Bevölkerung dank den günstigeren Bedingungen, die die Volksschule gewährt, die Schulpflicht freudiger erfüllt, als früher. Es gibt ganze Provinzen, in denen polizeiliche Mitwirkung bei der Aufstellung der Schülerzugangslisten entbehrlich ist. Die Schulpflicht ist, dem Zuge der Zeit folgend, unter Eingreifen in die elterlichen Rechte, ausgedehnt worden auf die blinden und taubstummen Kinder (1911). Und die Hauptsache ist, daß die Kosten der Beschulung dieser Kinder unvermögenden Eltern abgenommen und den Kommunalverbänden bzw. den Ortsarmenverbänden auferlegt sind. Auch scheint die Zeit nicht mehr fern zu sein, daß die Schulpflicht der schwachsinnigen Kinder, welche jetzt in ordentliche Volksschulen eingeschult werden,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/666&oldid=- (Version vom 31.7.2018)