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Das Fortbildungsschulwesen unterstand damals noch dem Kultusminister, 1884 wurde es dem Handelsminister überwiesen; 1895 wurde die ländliche Fortbildungsschule dem Landwirtschaftsminister unterstellt. Erst von letzterem Zeitpunkt ab kann von einer lebhafteren Förderung dieser Schulen die Rede sein. Und erst der neuesten Zeit gehört die Einführung der Pflichtfortbildungsschulen, wie sie durch die Gesetze von 1904 für die Provinz Hessen-Nassau, 1909 Hannover, 1910 Schlesien und 1911 nach langen Kämpfen für Brandenburg, Pommern, Sachsen, Schleswig-Holstein, die Rheinprovinz und Hohenzollern erfolgt ist. Eine allgemeine Fortbildungsschulpflicht ist allerdings noch nicht eingeführt, sondern es kann nur durch statutarische Bestimmung einer Gemeinde für die nicht mehr schulpflichtigen, unter 18 Jahre alten männlichen Personen für drei aufeinanderfolgende Winterhalbjahre die Verpflichtung zum Besuch einer ländlichen Fortbildungsschule begründet werden. Die nur für einen Teil der Monarchie vorgesehene Möglichkeit der Ergänzung des Gemeindebeschlusses durch den Kreisausschuß ist von keiner großen praktischen Bedeutung. Im großen und ganzen hängt die Errichtung einer ländlichen Fortbildungsschule von dem Interesse und dem Verständnis der nächstbeteiligten Kreise ab, während deren Geldaufwendungen bei den erheblichen Staatszuschüssen gering sind. Dem Unterrichtsbetrieb der ländlichen Fortbildungsschulen liegt die Anleitung für die Aufstellung von Lehrplänen von 1910 zugrunde. Für die Ausbildung der Volksschullehrer, denen fast ausschließlich die Erteilung des ganz neue Anforderungen stellenden Unterrichts dieser Schulen obliegt, wird durch Fortbildungsschulkurse gesorgt, die seit Ende der neunziger Jahre für jede Provinz eingerichtet sind, aber bei weitem noch nicht ausreichen. Wenigstens ist seit Ende 1910 der Anfang gemacht mit der Einrichtung einer regelmäßigen Schulaufsicht durch die Kreisschulinspektoren oder besonders bestellte sachverständige Beamte. Von deren pfleglicher Einwirkung darf man für die Zukunft eine ersprießliche Wirksamkeit der ländlichen Fortbildungsschulen erhoffen. Hinderlich ist ihrer Entwicklung, daß sie dem Landwirtschaftsminister unterstellt sind, während alle bei dem Unterricht und der Aufsicht beteiligten Organe dem Kultusminister unterstehen. Voraussichtlich wird sich immer mehr herausstellen, daß die ländlichen Fortbildungsschulen weder landwirtschaftliche, noch überhaupt eigentliche Berufsschulen sein können, weil ihre Schüler den verschiedenartigsten Berufskreisen angehören, deren berufliche Ausbildung nicht gleichzeitig verfolgt werden kann. Die Landwirtschaft treibende Bevölkerung ist in den ländlichen Fortbildungsschulen oft nur sehr schwach vertreten und tritt oft ganz zurück hinter Handwerkern und Fabrikarbeitern. Der gemeinsame Boden für den Unterricht der schulentlassenen männlichen Jugend in solchen kleinen Orten, für die eine gewerbliche Fortbildungsschule mit bestimmten Berufsausbildungszielen nicht angebracht ist, ist die allgemeine Fortbildungsschule. An Stoff aus der Praxis des täglichen Lebens eines schulentlassenen Jünglings, aus der Bürger- und Naturkunde, ist Überfülle vorhanden. In erster Linie hat die allgemeine Fortbildungsschule der Befestigung der sittlichen Tüchtigkeit der Jugend und ihrer Bewahrung vor Abwegen zu dienen. Die natürliche Entwicklung drängt darauf hin, die ländlichen Fortbildungsschulen zu allgemeinen Fortbildungsschulen auszugestalten, und dann gehören sie, ebenso wie die eng damit verknüpfte Jugendpflege, in den Amtsbereich des Kultusministers.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/690&oldid=- (Version vom 31.7.2018)