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und Wirksamkeit zu verleihen. Aber ebenso gewiß ist es, daß die praktische Lehre nur noch in Ausnahmefällen dem Lehrling die gründliche und die vielseitige Ausbildung zu geben vermag, deren der Anfänger bedarf, um unter den heutigen Verhältnissen des immer schärfer werdenden Wettbewerbs seine Stelle auszufüllen und sein Fortkommen zu finden. So sind, nicht aus Doktrinarismus oder aus bureaukratischem Bevormundungsstreben, sondern durch die Bedürfnisse des gewerblichen Lebens selbst neben die gewerbliche Praxis gewerbliche Schulen gestellt worden, die die Aufgabe haben, dem Nachwuchs im Handel und Gewerbe das Wissen und Können zu vermitteln, dessen er neben der praktischen Ausbildung bedarf. Diese Schulen führen von alters her die Namen Fach- und Fortbildungsschulen. Ihre Unterscheidung war nicht immer klar und ist auch jetzt nicht streng durchgeführt. Im allgemeinen aber kann man sagen, daß die Fortbildungsschulen die Berufsschulen für die Gesamtheit des gewerblichen Nachwuchses sind, während die Fachschulen nur für einzelne Zweige des gewerblichen Berufs bestimmt sind, diesen aber ein über die Fortbildungsschule hinausreichendes Können zu vermitteln haben.

Entstehung der Fortbildungs- und Fachschulen.

Die Entstehung sowohl der Fortbildungs- wie der Fachschulen fällt in die Zeit vor dem Jahre 1888 und kann daher hier nur kurz angedeutet werden. Die ersten Anfänge der Fortbildungsschulen liegen in den Sonntagsschulen, wie sie in fürstlichen Verordnungen des 18. (z. B. den Schulreglements Friedrichs des Großen von 1763 und 1765) und des beginnenden 19. Jahrhunderts vorgeschrieben wurden, um bei den Landeskindern das in der Volksschule erworbene Wissen zu erhalten und zu ergänzen. Diese Sonntagsschulen, die noch jetzt in Bayern bestehen, sind nicht Berufsschulen in unserem Sinne, sind aber oft ihre Vorläufer gewesen. Die Entstehung eigentlicher gewerblicher Fortbildungsschulen geht zurück auf die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts errichteten Handwerker-Zeichenschulen und erhielt alsdann einen überaus wirksamen Anstoß dadurch, daß die Gewerbeordnung von 1869 die Fortbildungsschulpflicht in die Regelung des gewerblichen Arbeitsverhältnisses einbezog. In der Folgezeit baute die Gesetzgebung die dürftige Vorschrift vom Jahre 1869 Schritt für Schritt aus, so daß sie zur Grundlage umfassender, in dieser Art bisher nicht gekannter Schulorganisationen werden konnte.

Auch die Entstehung der Fachschulen reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück; denn die damals von fürstlicher Freigebigkeit gegründeten Akademien sollten nicht nur der hohen Kunst dienen, sondern auch kunstverständige Handwerker erziehen und fördern. Aber die damals gepflanzten Keime gingen bis auf wenige Reste unter in der Not der napoleonischen Jahre, und das 19. Jahrhundert mußte mit der Errichtung von Fachschulen im wesentlichen von vorn anfangen. Die Anregungen zu den Neugründungen kamen zum Teil vom Staat (Gewerbe-Akademie in Berlin und Provinzial-Gewerbeschulen), zum Teil von der Industrie (Textilschulen). Von großem Einfluß war die durch die ersten Londoner Weltausstellungen (1851) verbreitete Erkenntnis

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/692&oldid=- (Version vom 31.7.2018)