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Fortpflanzung.

Während man so die mikroskopische Grundlage der Fortpflanzung durch sorgfältige Beobachtungen immer genauer feststellte, läuft parallel damit gerade in den Tagen unsres Jahrhunderts der Versuch, durch das Experiment die Bedeutung der Trennung der Geschlechter in der Fortpflanzung zu ergründen. Diese Versuche knüpfen meistens an die schon erwähnte Entdeckung des Augustinermönchs von Brünn, Gregor Mendel, an. Zahllose Versuche haben immer wieder den Satz bestätigt, daß in vielen Fällen, wenn man zwei Individuen verschiedener Pflanzenrassen miteinander paart, eine Zwischenrasse entsteht, die bei nachher angewandter Inzucht im Laufe der nächsten Generationen in die ursprünglichen, sogenannten reinen Rassen wieder aufspaltet, und zwar nach einem bestimmten Zahlenverhältnis. Man hat aber auch mehr und mehr Ausnahmen gefunden, die sich der Spaltungsregel Mendels nicht fügen, und es sind die Arbeiten im Fluß, welche dies verschiedenartige Verhalten auf eine gemeinsame Grunderscheinung zurückzuführen suchen. Das so wichtige züchterische Problem wurde dann neuerdings von einer anderen Seite in Angriff genommen. An Beobachtungen des dänischen Botanikers Johannsen anknüpfend, sucht man Generationen von Pflanzen in „reinen Linien“ zu kultivieren, d. h. man erzielt Samenkörner, die durch Selbstbefruchtung eines und desselben Individuums entstanden sind, und deren Nachkommen auch nur auf dem gleichen Wege fortgepflanzt werden. Hierdurch gewinnt man beliebig lange Reihen von Generationen, deren Individuen sich durch gar keine morphologisch in Betracht kommende Merkmale voneinander unterscheiden, in denen also eine Beständigkeit der Art sich zu erkennen gibt.

Schon lange hatte die gärtnerische Praxis gelehrt, daß die so vielfache Neuentstehung bis dahin unbekannter Rassen von Nutzpflanzen und Zierpflanzen teils auf einer sprungweisen Abänderung, d. h. einer in deutlichen Merkmalen von der Stammpflanze sich unterscheidenden Varietät beruht, teils auf Kreuzung verschiedener Rassen und sogar Arten miteinander bei der Befruchtung, wobei Bastarde entstehen, die für die Gärtner wertvolle Eigenschaften besitzen. Diese Erscheinungen haben in den letzten beiden Jahrzehnten das Interesse der Botaniker ganz besonders in Anspruch genommen, und auf wenig Gebieten wird gegenwärtig so lebhaft gearbeitet, wie auf diesem. Dabei wurde eine höchst interessante Entdeckung gemacht, an der ich nicht vorübergehen möchte. Es gibt einige Gewächse, von denen es hieß, daß sie nicht durch Kreuzbefruchtung zweier Arten entstanden seien, sondern dadurch, daß man eine Art auf die andre pfropfte. Man nannte sie Pfropfbastarde. So findet sich in den Gärten eine Abänderung des Goldregens, die man seit langer Zeit für einen Pfropfbastard des gewöhnlichen Goldregens und des purpurrot blühenden Goldregens, eines kleinen Strauches des Alpengebiets, gehalten hat. Diese Mittelform wollte sich aber künstlich nicht wieder hervorrufen lassen.

Chimären.

Da erzielte H. Winkler durch Pfropfung von Nachtschatten auf die Tomatenpflanze ein Gewächs, das halb Nachtschatten und halb Tomate war, ohne daß sich aber die Eigenschaften der beiden Stammpflanzen miteinander vermengt hatten; der Entdecker nannte diese neue, durch das Experiment geschaffene Pflanzenform eine Chimäre. Später gelang es, andre Chimären zu gewinnen, bei denen die Verbindung der Eigenschaften der beiden Stammpflanzen eine viel innigere war,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1242. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/113&oldid=- (Version vom 20.8.2021)