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kritisch veranlagter Kopf wie Kant in seiner eingangs erwähnten Naturgeschichte des Himmels dieser Prinzipienfrage gegenüber einnimmt. Er sagt dort: „… wenn man die Analogie zu Hilfe nimmt, welche uns allemal in solchen Fällen leiten muß, wo dem Verstande der Faden der untrüglichen Beweise mangelt“. Das scheint ein kräftiger Freibrief für die Methode der Analogie zu sein, und in der Tat würde die Naturwissenschaft der Gegenwart ein seltsames Aussehen gewinnen, wollte man alle Analogieschlüsse aus ihr verbannen. Wohl ist die Beurteilung nach Analogie eine in die Form eines logischen Schlusses gekleidete Handlung unsrer Phantasie; aber wer möchte soweit gehen, auch der Phantasie eine Beteiligung am Aufbau der Wissenschaft zu verwehren?

Die wichtigste von der Deszendenztheorie vollzogene Analogie besteht darin, daß sie den historischen Aufbau der Pflanzen- und Tierwelt von ihren ersten Anfängen an dem entwicklungsgeschichtlichen Aufbau eines höheren Tierkörpers vergleicht, und daß sie für ersteren eine analoge Entwicklung annimmt. Neben die erfahrungsmäßig vor unsern Augen sich vollziehende Entwicklung der Individuen setzt sie daher eine hypothetische Stammesentwicklung, wonach die Arten, Gattungen, Ordnungen, Klassen der Tiere und Pflanzen sich in der Art eines Stammbaums genetisch aneinander reihen sollen. Es fragt sich jetzt, durch welche Argumente diese Theorie gestützt werden kann.

Der Naturforscher wird immer Beweise zu sehen wünschen. Aber exakte Beweise für die Richtigkeit der Abstammungstheorie, Beweise, zu deren Anerkennung jedermann logisch gezwungen werden kann, gibt es nicht. Wir müssen uns genügen lassen an einer, diesem größer, jenem geringer scheinenden Zahl von Argumenten, die sich zu einem Indizienbeweise mit einem gewissen Grade von Wahrscheinlichkeit zusammenfügen lassen, die bald größer, bald weniger groß erscheint.

Exakte Beweise der Abstammungslehre würden nur auf zwei Gebieten liegen können, auf dem der Paläontologie bzw. Erdgeschichte und auf dem der experimentellen Beobachtung der lebenden Tiere und Pflanzen. Leider versagen aber beide Gebiete und liefern nur mehr oder weniger wichtige Argumente.

Bedenken.

Was die Paläontologie zugunsten der Abstammungslehre bedeutet, wurde schon hervorgehoben, auch, daß dem andre beachtenswerte Tatsachen gegenüberstehen. In der ältesten der neptunischen Formationen, dem Kambrium, gab es noch keine Fische, also noch keine Wirbeltiere, die erst in der nächsten Formation, im Silur, auftreten. Trotzdem lebten im Kambrium bereits andre hoch organisierte Tiere, wie Bracchiopoden, Mollusken, Krebse, die Muskeln, Nerven und Sinnesorgane besahen, ja, von denen einzelne Gattungen (Lingula) sich unverändert bis in die Gegenwart erhalten haben. Tiere, die als Vorfahren der Fische gedeutet werden könnten, kennt man aus dem Kambrium nicht. Unvermittelt wie die Fische im Silur, treten in den späteren Formationen Amphibien, Reptilien und Vögel auf, letztere im Jura, und hier durch den Archäopteryx vertreten, einen merkwürdigen Vogeltyp, der verschiedene Merkmale der Eidechsen besitzt und eine Andeutung dafür ist, daß die Vögel wohl aus eidechsenartigen Tieren hervorgegangen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1253. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/124&oldid=- (Version vom 20.8.2021)