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Bestenfalls ist man durch diese Versuche, mit denen die Kunstfertigkeit der Gärtner sich seit Jahrhunderten beschäftigt hat, dahin gelangt, einige neue Arten, und zwar solche, die in ihren Merkmalen einander sehr nahe stehen, so daß man sie auch erbliche Rassen nennen kann, zu erzielen. Die Hauptsache bleibt aber: alle Züchtungsversuche haben nur neue Pflanzen- und Tierformen ergeben, die auf gleicher morphologischer Organisationshöhe mit deren Eltern stehen; eine typische Verschiedenheit durch das Experiment zu erzielen oder gar eine Aufwärtsentwicklung von niederen zu höheren Typen ist nirgends geglückt, und es scheint aussichtslos zu sein, sie von der Zukunft zu erwarten. Wenn dem gegenüber gesagt wird, es bedürfe sehr langer Zeiten, damit die Umwandlung eines Typs in den andern zustande komme, so ist dagegen zu erinnern, daß bei Neubildungen, die sich stets auf gleicher Organisationshöhe halten, ein morphologischer Fortschritt der Entwicklung ausgeschlossen erscheint; meinte doch auch der ausgezeichnete Botaniker Sachs, eine solche Erwartung komme ihm vor, als wenn man daran denken wollte, daß bei recht langer Zeitdauer ein Dreieck sich doch vielleicht von selbst in eine Ellipse verwandeln könne.

Als wichtiges Ergebnis der höchst verdienstlichen neueren Züchtungsversuche ist noch hervorzuheben, daß äußere Einflüsse bei der Neubildung erblicher Rassen wirkungslos zu sein scheinen, während Darwin und Nägeli solchen äußeren Einflüssen eine besonders große artbildende Wirksamkeit zuschrieben. Die experimentell erweisliche, wenn auch beschränkte Plastizität der Arten verhält sich also insofern analog den Vorgängen der embryologischen Entwicklung, als auch bei diesen die inneren, erblich überkommenen Einflüsse das entscheidende Moment der Entwicklung bilden.

Wenn somit Paläontologie und Experiment für einen Beweis der Abstammungslehre sich unzulänglich erweisen, so fragt sich, wo wir die für die evolutionistische Anschauung maßgebenden Argumente zu suchen haben.

Deutungen.

Da kommen in erster Linie die rudimentären Organe in Betracht, die eine Deutung geradezu herausfordern. Diese Deutung fällt unbedingt in dem Sinne aus, daß das Dasein von Pflanzen oder Tieren mit rudimentären, d. h. für den Gebrauch ungeeigneten und gar nicht zur Geltung kommenden Organen nur verständlich wird, wenn wir annehmen, daß sie von Vorfahren abstammen, die die gleichen Organe in gebrauchsfähiger Ausbildung besaßen. Es sei hier statt vieler nur ein Beispiel aus der Pflanzenwelt und eins aus der Tierwelt erwähnt.

Innerhalb der Pflanzenfamilie der Skrophulariazeen besitzt die Gattung Verbascum 5 Staubfäden, die meisten andern Gattungen haben deren nur 4, bei einigen steht an Stelle des fünften Staubfadens ein nutzloser Stummel; bei Gratiola sind von diesen 4 Staubfäden wiederum 2 zu Stummeln verkümmert, bei Veronica finden wir nur 2 Staubfäden ohne Rudiment der 3 andern. Man schließt daraus, daß Verbascum den Grundtypus der Familie bildet, aus dem die andern Gattungen unter Verkümmerung eines Teils der Staubfäden sich entwickelt haben.

Zu den Säugetieren gehören die Wale, die darum auch vier Gliedmaßen haben, von denen aber lediglich die beiden vordern als Flossen zum Schwimmen dienen, während

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1256. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/127&oldid=- (Version vom 20.8.2021)