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das hintere Paar so vollständig verkümmert ist, daß es nur in Gestalt von Knochen erkennbar wird, die tief im Fleische des Körpers drinstecken, für das Tier somit ganz nutzlos sind. Warum besitzt ein Wal diese völlig rudimentär gewordenen hinteren Extremitäten? Eine alte Naturauffassung lehrte, daß vier Extremitäten unbedingt zum Typus oder zur Idee der Säugetiere gehörten; die Deszendenztheorie sucht es wahrscheinlich zu machen, daß die Wale von andern schwimmenden Säugetieren abstammen, bei denen auch die hintern Extremitäten als Flossen dienten, daß aber auf dem Wege dieser Abstammung die hintern Gliedmaßen verkümmerten. Beachtenswert bleibt, daß in allen Fällen die rudimentären Organe uns als Rückbildungen vollkommener Organe erscheinen, keineswegs aber als die Anfänge einer aufsteigenden Entwicklung. Anfänge von Organen, deren Ausbildung von der Zukunft zu erwarten wäre, kennt man nicht.

Wenn man an dem Satz festhält, daß jedes Lebewesen von einem andern Lebewesen hervorgebracht wird, so entsteht gleichsam von selbst der Gedanke, daß aus anfänglich gegebenen Urzellen die heute lebende Fülle der Pflanzen und Tiere nach Analogie der individuellen Entwicklung sich hervorgebildet habe; fraglich bleibt, ob diese Aufwärtsentwicklung immer allmählich vor sich gegangen ist, ob nicht auch Sprünge angenommen werden müssen, wie von der Raupe zum Schmetterling.

Innere Impulse.

Macht man Ernst mit dem Analogieprinzip, so wird man die Stammesentwicklung ebensogut inneren Ursachen und Impulsen zuschreiben müssen, wie diese in der Individualentwicklung vorherrschen. Damit steht im Einklang das Ergebnis der neueren Forschung, daß durch äußere Umstände bei Pflanzen herbeigeführte Abänderungen sich nicht vererben. Die Erfahrung zeigt, daß, wo eine neue erbliche Rasse auftritt, die Ursachen der Abänderung innere waren, und daß diese Ursachen vorläufig nicht weiter analysierbar sind. Von den Kreuzungen ist hierbei abgesehen.

Wie Schiller einst zu Goethe sagte: Ihre Metamorphose der Pflanzen ist keine Tatsache, sondern eine Idee, so muß auch von der Deszendenzlehre in ihrer gegenwärtigen Phase bekannt werden, daß sie eine Idee ist, von deren Richtigkeit man felsenfest überzeugt sein kann, die sich aber nicht als Tatsache beweisen läßt. Doch indem wir die organisierten Einzelwesen werden sehen, immer wieder werden und immer nur werden, überträgt eine denkende Phantasie diese Anschauung auch auf die Geschlechter der Pflanzen und Tiere. Man glaubt an diese Idee so fest, wie die Chemiker an ihre Atome und Moleküle. Es läßt sich Dichtung neben der Wahrheit auch aus der Wissenschaft nicht ganz verbannen: „Kühn durch das Weltall steuern die Gedanken“.

Der Mensch.

Daß bei allgemeiner Geltung der Entwicklungs- und Abstammungslehre auch der Mensch in die Abstammungslehre einbezogen wird, ist eine einfache Folgerung. Wenn im Laufe der Stammesentwicklung der menschliche Geist einst aus einer Tierseele ober vielmehr aus den Anlagen derselben hervorquoll, so ist dies an sich nicht wunderbarer, als seine Entstehung im Laufe der individuellen Entwicklung des Menschen. Die hypothetischen tierischen Vorfahren des Menschen kennen wir zur Zeit aber nicht und werden sie vielleicht nie kennen lernen.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1257. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/128&oldid=- (Version vom 20.8.2021)