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Forschungen aller Kulturländer sollen der Absicht des Buches entsprechend im folgenden naturgemäß die in Deutschland erzielten Fortschritte in erster Linie berücksichtigt werden.

Nach diesen einleitenden Betrachtungen gehen wir zur Behandlung der Entwicklung der theoretischen Chemie, der Fortschritte der anorganischen und der organischen Chemie über.

Entwicklung der Valenztheorie.

Die Grundlage für unsere Ansichten über den Bau der Moleküle chemischer Verbindungen ist August Kekulés Valenztheorie. Kekulés Valenztheorie war aus der Typentheorie von Charles Gerhardt abgeleitet: Valenz ist die „Idee der Typen“. Für Kekulé ist die Basizität oder Atomigkeit – den Ausdruck Valenz führte für diesen Begriff erst später Kekulés Schüler Wichelhaus ein – eine Grundeigenschaft der Atome, ebenso unveränderlich wie das Atomgewicht selbst. Von Anfang an lag das Schwergewicht der Kekuléschen Valenztheorie auf dem Gebiete der organischen Chemie. Die Annahme der Verkettung der konstant vierwertigen Kohlenstoffatome untereinander und mit den Atomen anderer Elemente machte nicht nur die gewaltige, stets wachsende Zahl der Kohlenstoffverbindungen begreiflich, sondern sie bildete die Grundlage ebenso für das Verständnis der genetischen Umwandlungsreaktionen, wie sie den zielbewußten Aufbau der Kohlenstoffverbindungen ermöglichte. Freilich hatte schon vor Kekulé der Engländer Edward Frankland auf die Gesetzmäßigkeit aufmerksam gemacht, daß namentlich Stickstoff, Phosphor, Antimon und Arsen die Tendenz zeigen, Verbindungen zu bilden, in denen drei oder fünf Äquivalente anderer Elemente enthalten sind, allein ohne eine Hypothese hinsichtlich dieser Übereinstimmung in der Gruppierung der Atome aufstellen zu wollen. Diese von Frankland für die Äquivalente hervorgehobene Gesetzmäßigkeit übertrugen Archibald Scott Couper, Alexander Williamson, Joseph Loschmidt, Naquet, Emil Erlenmeyer sen., Butlerow, Blomstrand u.a.m. auf die Atome, und so trat Kekulés Hypothese der konstanten Valenz die der wechselnden gegenüber. Kekulé hielt jedoch an der Konstanz der Valenz fest und erklärte die Verbindungen, die unter Annahme der konstanten Minimalvalenz überhaupt nicht zu formulieren waren, als Molekularadditionen.

Den nächsten Fortschritt brachte 1874 die Theorie von van’t Hoff und von Le Bel vom asymmetrischen Kohlenstoffatom, – auf das als Erklärungsmöglichkeit der Isomerie optisch aktiver Kohlenstoffverbindungen schon Pasteur hingewiesen hatte, – und damit die Annahme der im Raum nach den Ecken eines Tetraeders gerichteten Valenzwirkungen des Kohlenstoffatomes, eine Annahme, von der A. v. Baeyers 1885 aufgestellte „Spannungstheorie“ ausgeht.

Die Weiterentwicklung der Valenztheorie erfolgte in neuerer Zeit hauptsächlich in zwei Richtungen. Man hatte anfangs daran festgehalten, daß die Wertigkeit oder Valenz eines Elementes entweder in geraden oder in ungeraden Werten wechseln könne. Allmählich gab man diese Beschränkung auf und nahm an, daß ein- und dasselbe Element wie z. B. Eisen sowohl zwei- und dreiwertig, Mangan zwei, drei- und vierwertig, Kohlenstoff zwei-, drei- und vierwertig wirken könne. Trotzdem boten noch eine große Anzahl Komplexsäuren und ihre Salze, die man als Anlagerungsprodukte fertiger Moleküle

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1295. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/166&oldid=- (Version vom 20.8.2021)